Kultusminister teils verärgert über Kontrolleur aus Costa Rica. Geforderte Abschaffung der Hauptschule längst im Gange.
Berlin. Vormittags debattierte die Vollversammlung des Uno-Menschenrechtsrates in Genf noch über die schwierige Lage im Sudan. Wenig später stand dann die deutsche Schule am Pranger: Fehlende Chancengleichheit und eine "De facto"-Diskriminierung von armen, ausländischen und behinderten Kindern, völlig unterschiedliche Schulsysteme in 16 Bundesländern, die Familien den Wohnortwechsel erschweren, unzureichende Schulautonomie und Versäumnisse bei der Lehrerausbildung - all das listete der Uno-Menschenrechtsinspektor Vernor Munoz als Fazit seines Deutschland-Besuches vom vergangenem Jahr auf.
Vom Vorwurf des "starken Tobaks" bis hin zur vollen Zustimmung und dem Ruf nach Überwindung des tradierten dreigliedrigen deutschen Schulsystems aus Haupt- und Realschule und Gymnasium reichten die Reaktionen von Verbänden und Parteien. Die Kultusminister der 16 Länder reagierten je nach politischem Temperament - mal bis aufs Äußerste gereizt, mal schweigsam. Ihr Präsident Jürgen Zöllner (SPD) blieb souverän: Man nehme die Munoz-Kritik auf, teile aber nicht alle seine Empfehlungen.
Mit seinem Bericht hat Munoz in der Tat ein leidiges Problem vor dem Uno-Menschenrechtsrat gebracht, das den Kultusministern allerdings lange schon bekannt ist: Nach den weltweiten Pisa-Studien ist in keinem anderen vergleichbaren Industrieland der Bildungserfolg eines Kindes so abhängig von seiner sozialen Herkunft wie in Deutschland.
Munoz folgert: Durch die im weltweiten Vergleich "untypische" frühe Selektion von zehnjährigen Kindern auf verschiedene Schulformen werden von ihrer Herkunft her benachteiligte Kinder doppelt benachteiligt. In der meist nur vierjährigen Grundschulzeit ließen sich Lücken im Ausdrucks- und Sprachvermögen kaum kompensieren. Die Separierung dieser Kinder in Haupt- und Sonderschulen verstärkt die Probleme.
Munoz regt dazu weitere Forschungen an. Doch den Kultusministern ist das Problem der fehlenden Chancengleichheit in den deutschen Schulen nicht erst seit den Pisa-Studien bekannt. Seit Anfang der 70er-Jahre liegen ihnen "robuste" wissenschaftliche Daten darüber vor: die regelmäßigen Mikrozensus-Auswertungen, die Sozialerhebungen des Deutschen Studentenwerkes und zahlreiche andere nationale Studien. Immer wieder wird dem deutschen Schulsystem eine ausgeprägte Kopplung von sozialer Herkunft und Bildungsabschluss bescheinigt.
Und auch nicht erst seit dem Munoz-Besuch tun sich die Länder- Kultusminister mit kritischen Blicken aus dem Ausland schwer. Als 1970 erstmals OECD-Experten deutsche Bildungsstätten inspizierten kündigte die Kultusministerkonferenz (KMK) wenig später die Mitwirkung an allen internationalen Vergleichsstudien auf. Erst seit dem ersten Pisa-Test (2000) sind alle Bundesländer wieder dabei.
In Bausch und Bogen verwarfen die Kultusminister 2002 ein neues Angebot der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), das deutsche Schulsystem durch internationale Experten evaluieren zu lassen. Der OECD-Bildungsexperten Andreas Schleicher ist ihnen wegen seiner Kritik an der deutschen Schulpolitik ohnehin ein Dorn im Auge.
Ungeachtet der jüngsten Warnungen ist in die deutsche Schulstruktur angesichts der dramatischen Schülerrückganges längst Bewegung gekommen. In Osten gibt es kaum noch Hauptschulen. In Schleswig-Holstein geht die Große Koalition von CDU und SPD mit der Einführung der Gemeinschaftsschule den Weg in Richtung Zweigliedrigkeit. Im CDU-regierten Hamburg zeichnet sich Ähnliches ab. Berlin und Sachsen wollen Gemeinschaftsschulen im Modellversuch testen. Baden-Württemberg erleichtert die Kooperation von Haupt- und Realschulen. Aber auch Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen wollen sich dem demografischen Druck stellen und streben zumindest mehr Durchlässigkeit bei den Schulformen an.