Am Mittwoch findet im Kanzleramt ein Konjunkturgipfel statt, im Mai folgt ein europäischer Job-Gipfel in Prag. Der tschechische Politiker nennt im Abendblatt-Interview sein Rezept gegen die Rezession: Kurzarbeit und höhere Sozialleistungen.

Hamburg/Brüssel. Hamburger Abendblatt:

Kommissar Spidla, die Wirtschaftskrise breitet sich aus. Wie viele Menschen werden in diesem Jahr ihren Job verlieren?

Vladimir Spidla:

Wir gehen davon aus, dass die Arbeitslosenquote in der EU bis Jahresende auf 10 bis 10,5 Prozent steigt. Nach unserer Prognose werden 4,5 Millionen Menschen ihren Job verlieren. Ob sich das bestätigt, hängt natürlich auch davon ab, mit welchem Erfolg wir die Wirtschaftskrise bekämpfen.



Abendblatt:

Anfang Mai treffen sich Regierungsvertreter der Europäischen Union in Prag zu einem Job-Gipfel. Wird es ein Gipfel der Worte oder ein Gipfel der Taten?

Spidla:

Das wird ein Gipfel der Taten. Wir bereiten uns sehr gründlich vor. Die Ergebnisse von Prag werden konkreter sein, als dies bei solchen Treffen üblich ist.



Abendblatt:

Was erwarten Sie?

Spidla:

Für mich sind zwei Elemente von besonderer Bedeutung. Erstens: Wir müssen die Kurzarbeit in Europa ausweiten. Menschen, für die es gerade keine Arbeit gibt, dürfen nicht gleich entlassen werden. Sie müssen ihrem Unternehmen erhalten bleiben - und Fortbildungskurse besuchen. Das funktioniert nicht überall in der EU. Zweitens: Menschen, die ihren Job verlieren, müssen umfassende staatliche Unterstützung erhalten - nicht zuletzt bei der Suche nach einem neuen Job. Wichtig wird sein, dass wir die Maßnahmen auf europäischer und nationaler Ebene gut aufeinander abstimmen.



Abendblatt:

Tut Deutschland genug im Kampf gegen Massenarbeitslosigkeit?

Spidla:

Was heißt schon genug? Anfang des Jahres gab es weniger als 100 000 Kurzarbeiter in Deutschland. Jetzt sind es sechs- oder siebenmal so viele. Das zeigt, dass die Bundesrepublik sich engagiert.



Abendblatt:

Sollte das Kurzarbeitergeld von 18 auf 24 Monate verlängert werden, wie Bundesarbeitsminister Scholz fordert?

Spidla:

Das ist sicherlich überlegenswert. Am Ende muss Deutschland selbst entscheiden. Für mich ist wichtig, dass so viele Menschen wie möglich in der Krise den Kontakt zu ihrer Arbeit halten.



Abendblatt:

In der Diskussion ist ein drittes Konjunkturpaket - möglicherweise in Form eines Sozialpakets. Wären Maßnahmen wie die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I oder die Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes sinnvoll?

Spidla:

Ich kenne die Vorschläge im Einzelnen nicht. Grundsätzlich gilt: Wer in der Krise die Sozialleistungen ausweitet, stärkt die sogenannten automatischen Stabilisatoren. Das ist günstig für die Konjunktur. Wenn sich Deutschland für ein Sozialpaket entscheidet, begrüße ich das ausdrücklich. Über die einzelnen Bestandteile, also ob eine Verlängerung des Arbeitslosengeldes I oder eine Erhöhung von Hartz IV der beste Weg ist, muss auf nationaler Ebene gründlich diskutiert werden.



Abendblatt:

Ist ein flächendeckender Mindestlohn, wie die SPD ihn verlangt, Fluch oder Segen in der Krise?

Spidla:

Mindestlöhne gibt es in fast allen EU-Staaten - in unterschiedlicher Form. Gemeinsam haben die Europäer die Erkenntnis, dass Mindestlöhne gut sind im Kampf gegen Armut. Umstritten ist allerdings, wie sie sich auf den Arbeitsmarkt auswirken. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass sie sich nicht negativ auswirken, und es gibt Studien, die das bestätigen. Im Übrigen: Kein europäisches Land plant, Mindestlöhne wieder abzuschaffen.



Abendblatt:

Was erwarten Sie von den Unternehmen in dieser schwierigen Situation?

Spidla:

Ich erwarte, dass die Unternehmen ihrer sozialen Verantwortung gerecht werden. Sie müssen Strategien entwickeln, die sich nicht an kurzfristigen Erfolgen orientieren. Langfristiges Denken ist jetzt gefragt. Die Unternehmen sollten alle Möglichkeiten nutzen, um ihre Beschäftigten zu halten.



Abendblatt:

Bei Opel sind Zehntausende Arbeitsplätze bedroht. Ist es die Aufgabe des Staates, den angeschlagenen Autobauer zu retten?

Spidla:

Zunächst in es die Aufgabe von Opel und seinem Mutterkonzern General Motors, diese Situation zu meistern. Über staatliche Hilfen - seien es Bürgschaften, sei es der Erwerb von Anteilen - haben die nationalen Regierungen zu entscheiden. Zweierlei sollten sie dabei beachten: Eine solche Entscheidung muss ökonomisch sinnvoll sein. Und sie muss im Einklang mit den europäischen Regeln stehen. Protektionismus ist sicher nicht der richtige Weg.



Abendblatt:

Die Abwrackprämie für Altautos ist ein großer Erfolg. Sollte sie auf andere Produkte - Kühlschränke etwa - ausgeweitet werden?

Spidla:

Das ist eine sehr sensible Frage. Die Autoindustrie hat aufgrund ihrer vielfältigen Verflechtungen eine besondere Bedeutung. Man sollte sehr vorsichtig sein, wenn es darum geht, dieses Instrument auf andere Branchen auszudehnen. Eine Abwrackprämie für Kühlschränke jedenfalls kann ich mir nur schwer vorstellen.



Abendblatt:

Wann geht es wieder aufwärts?

Spidla:

Das kann keiner so genau sagen. Da gibt es die unterschiedlichsten Prognosen. Ich glaube: Was den Arbeitsmarkt angeht, wird die Talsohle im Mai des kommenden Jahres erreicht sein.



Abendblatt:

Der luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker hat den Fortgang der Krise in dunklen Farben gemalt. Er fürchtet soziale Unruhen in Europa. Teilen Sie die Sorge?

Spidla:

In manchen Ländern ist die Lage sehr gespannt. Man kann soziale Unruhen nie ausschließen. Umso wichtiger ist es, jetzt den Menschen zu helfen, die in Schwierigkeiten sind. Dem Job-Gipfel kommt dabei eine besondere Bedeutung zu.



Abendblatt:

Nach den Erfahrungen der vergangenen Monate - würden Sie sagen, dass der Kapitalismus gescheitert ist?

Spidla:

Sicher nicht. Gewisse Strategien, die im Rahmen des Kapitalismus entwickelt wurden, waren nicht erfolgreich. Aber die soziale Marktwirtschaft mit guten Regeln funktioniert nach wie vor.