... und neun weitere Thesen: Angela Merkel zieht ihre vierte Amtszeit durch. Und die AfD bleibt unberechenbar.

1.

Angela Merkel bleibt
die komplette Legislatur-
periode Kanzlerin

Dass kurz nach der Wahl die Debatte darüber beginnen würde, wer nächster Kanzlerkandidat der CDU/CSU in vier Jahren werden könnte, ist nicht überraschend. Selbst wenn Angela Merkel am Sonntag die in Umfragen prognostizierten 36 oder mehr Prozent geholt hätte, wäre es die letzte Legislaturperiode für die Kanzlerin geworden. Wer aber glaubt, dass sie ihr Amt vorzeitig abgeben wird, täuscht sich. Merkel hat vor der Wahl mehrfach und deutlich gesagt, dass sie die kompletten vier Jahre im Kanzleramt bleiben will. Daran ändert das Ergebnis nichts, das im Übrigen von anderen wenig abweicht. Nur einmal, nämlich vor vier Jahren, hat Merkel mit der CDU/CSU mehr als 40 Prozent der Stimmen bei einer Bundestagswahl erreicht, sonst lag sie um 35 Prozent oder darunter. Vielleicht hat sie auch deshalb relativ ruhig auf die jüngsten Zahlen reagiert. Wichtigster Grund dafür, dass Merkel die Legislaturperiode durchzieht, ist aber die wahrscheinliche neue Regierungskonstellation. In einem Jamaika-Bündnis könnte die Kanzlerin nicht einfach so nach zwei oder drei Jahren an einen anderen übergeben. Sollte sie das versuchen, würde es mit großer Sicherheit zu vorgezogenen Neuwahlen kommen.

2.

Die Jamaika-Koalition kommt

Einerseits wäre die Regierungsbildung für Angela Merkel einfacher gewesen, wenn es neben „Jamaika“ auch weiter die Möglichkeit einer Großen Koalition gegeben hätte. Andererseits liebäugeln die Klimakanzlerin und Teile ihrer CDU schon länger mit einer Zusammenarbeit mit den Grünen. Dank Merkel hat sich ihre Partei in den vergangenen Jahren immer stärker auf die einstigen Alternativen zubewegt. Der Atomausstieg, die großen Klimaziele oder die Ehe für alle hätten auch von einer grünen Bundeskanzlerin sein können. Ginge es nur um ein Bündnis von CDU und Grünen, würden die Verhandlungen nicht lange dauern, selbst mit der FDP dürfte man sich relativ schnell auf Gemeinsamkeiten einigen. Wirklich kompliziert werden die kommenden Gespräche wegen der CSU. Doch auch sie hat kein Interesse, dass es auf Bundesebene zu Neuwahlen kommt – weil 2018 ja über den Landtag in Bayern abgestimmt wird.

3.

Der Aufstieg der FDP
hat gerade erst begonnen

Im Wahlkampf hat Christian Lindner am Ende seiner Reden gern diese beiden Sätze gesagt: „Ich verspreche, dass die FDP auch nach der Bundestagswahl Fehler machen wird. Aber es werden andere Fehler sein als früher.“ Wie ernst er das gemeint hat, wie sehr der Vorsitzende und seine Partei aus der harten Zeit in der außerparlamentarischen Opposition gelernt haben, zeigte sich schon am Sonntagabend. Lindner war, im Vergleich zum Wahlkampf und trotz des persönlichen Triumphs, verhältnismäßig bescheiden, nüchtern und hoch konzentriert. Das Großmanngehabe ist bei den Liberalen Geschichte. Wer einmal wie sie tief in den Abgrund gestürzt ist, wird alles dafür tun, nie wieder dorthin zu kommen. Deshalb werden wir in den nächsten vier Jahren eine andere FDP als in der Vergangenheit erleben, ruhiger, überlegt und verantwortungsbewusst. Ein weiterer Vorteil: Lindner ist der junge Spitzenmann, den die anderen Parteien erst noch finden müssen.

4.

Der sofortige Verzicht auf die
Große Koalition ist für die SPD
Chance und Risiko zugleich

Das schlechteste Ergebnis in der Geschichte der Bundestagswahlen, die vierte Niederlage eines SPD-Spitzenkandidaten in Folge gegen Angela Merkel – die SPD wäre verrückt gewesen, wenn sie ein weiteres Mal in eine Große Koalition gegangen wäre. Und deshalb war es nicht ungeschickt, den Verzicht auf eine weitere Regierungsbeteiligung wenige Minuten nach Bekanntgabe der ersten Prognose am Sonntag zu erklären. Das lässt die SPD entschlossen und mutig wirken, so mutig und entschlossen wie lange nicht. Kommt hinzu, dass man den Gang in die Opposition als staatspolitische Pflicht begründen kann, weil sonst die AfD Oppositionsführerin wäre. Aber: Staatspolitische Pflicht ist es für die zweitstärkste Partei im Bundestag auch, im Zweifel zu einer Regierungsbildung beizutragen. Sollten die Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition aus irgendeinem Grund scheitern, könnte die SPD in die Verlegenheit kommen, doch noch über eine Große Koalition sprechen zu müssen – um nicht für sonst unausweichliche Neuwahlen mitverantwortlich gemacht zu werden. Immerhin, siehe oben: Diese Gefahr ist klein.

So haben Ihre Nachbarn gewählt: die interaktive Wahlkarte

5.

Wenn die SPD glaubt, dass sie mit
dem Gang in die Opposition ihre
Probleme gelöst hat, liegt sie falsch

Die Junior-Partnerschaft in einer Großen Koalition mag für die SPD ein Nachteil gewesen sein – der einzige Grund für ihr desaströses Abschneiden bei der Bundestagswahl ist sie nicht. Dass die Probleme der Partei sehr viel tiefer liegen, zeigt der Blick in andere Länder. Überall haben Bewegungen, die der Sozialdemokratie ähnlich sind, in den vergangenen Jahren an Stimmen und Einfluss verloren, Regierungsbeteiligungen sind eher die Ausnahme als die Regel. Was einerseits daran liegt, dass es die einst große Kernzielgruppe der Genossen, den klassischen Arbeiter, nicht mehr gibt. Und andererseits daran, dass Gesellschaften wieder nach rechts rücken, der Ruf nach mehr Nationalstaatlichkeit größer wird. Eigentlich müsste sich die SPD heute um jene kleinen und mittelgroßen Leute kümmern, denen die Folgen von Globalisierung und Digitalisierung Angst machen. Die eben nicht so mobil sind oder sein wollen wie jene, die montags ihre Heimat verlassen, um auf der ganzen Welt Geschäfte zu machen, und die irgendwann freitags zurückkommen. Die SPD könnte die Partei derjenigen Menschen sein, deren Leben sich eben nicht international, sondern in einem Umkreis von 50 oder 100 Kilometern abspielt. Diese Wähler suchen nach Antworten, und springen, solange sie diese bei etablierten Parteien nicht finden, auf Parolen von Protestparteien an.

6.

Ein Teil der klassisch linken Wähler
ist für die SPD verloren

So, wie die CDU rechts neben sich Raum gelassen hat für eine neue Partei, die AfD, hat die SPD in den vergangenen Jahrzehnten zugesehen, zusehen müssen, wie links neben ihr die Linken groß geworden sind. Die Bundestagswahl hat erneut bewiesen, dass sie sich in Deutschland fest etabliert und mit Sahra Wagenknecht eine Spitzenfrau von Format haben. Linke Stammwähler wieder zurück zur SPD zu holen wird auch unter der neuen Fraktionschefin Andrea Nahles sehr schwierig werden – zumal die Linken das Thema Soziale Gerechtigkeit anders als die Sozialdemokraten in den vergangenen Jahren niemals aus den Augen verloren haben.

7.

Das Thema Flüchtlinge steht
stellvertretend für zwei viel
größere Probleme, die keine
nationale Partei lösen kann

Dass die Flüchtlingskrise auch zwei Jahre nach ihrem Höhepunkt 2015 einen derart großen Einfluss auf die Bundestagswahl hatte, hat natürlich mit der „Wir schaffen das“-Politik von Angela Merkel zu tun. Darüber hinaus ist das Thema Flüchtlinge aber nur eine Erscheinungsform der beiden Kernthemen, die die Menschen in Deutschland und anderen Teilen der westlichen Welt verunsichern: Globalisierung und Digitalisierung lassen selbst in der Bundesrepublik, in der es statistisch gesehen den Bürgern so gut wie lange nicht geht, große Zukunftsängste entstehen. Wird es meinen Arbeitsplatz morgen überhaupt noch geben? Wie lassen sich gewohnte Lebensstandards und Lebensgewohnheiten aufrechterhalten? Und vor allem: Kann nicht mal irgendjemand dafür sorgen, dass am besten alles so bleibt, wie es ist, noch ist es doch ziemlich gut? Der Wunsch ist allzu verständlich, doch die Wahrheit bleibt: Wer behauptet, ihn erfüllen zu können, lügt. Die Globalisierung und die Digitalisierung sind nicht zu stoppen. Sie schränken im Gegenteil auch die Handlungsmöglichkeiten von nationalen Parteien ein. Wer die damit verbundenen Probleme angehen will, darf eben nicht nur ans eigene Land, sondern muss international denken.

8.

Die AfD ist unberechenbar

Die etablierten Parteien leben nun schon einige Jahre mit der Hoffnung, dass sich die Alternative für Deutschland selbst zerlegen würde, wenn sie erst einmal in den Mühen der Parlamentsarbeit angekommen ist. Nach dem Einzug in den Bundestag gibt es aber kaum noch Parlamente, in denen die AfD nicht vertreten ist, und trotzdem hält ihr Erfolg an. Das muss nicht, kann aber so weitergehen. Die AfD ist dabei wie keine andere Partei davon abhängig, was um sie herum und in der Welt passiert. Hätte es 2015 die Flüchtlingskrise nicht gegeben, wären die neuen Rechten bei der Bundestagswahl wahrscheinlich schon wieder in den „Sonstigen“ untergegangen. Ohne das langweilige TV-Duell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz wäre die AfD wohl nicht auf fast 13, sondern nur auf acht oder neun Prozent gekommen – bei diesen Werten stand die Partei vor dem Aufeinandertreffen von Kanzlerin und Herausforderer. Soll heißen: Die AfD kann eine noch so schwache Vorstellung im Bundestag abgeben, entscheidend ist, ob die Regierung vernünftige Antworten auf die Fragen findet, die Millionen Wähler zu der AfD getrieben haben. Wenn nicht, wird der Protest noch länger dauern und größer werden.

9.

Der nächste Kanzler der Bundes-
republik Deutschland ist ein Mann

Diese These ist aus dem jüngsten „Spiegel“ zur Wahl geklaut, was sie aber nicht schlechter macht. Nach zwölf, voraussichtlich 16 Jahren Angela Merkel wird es 2021 an der Spitze Deutschlands nicht nur um einen graduellen Wechsel gehen. Zudem gibt es auch in unserem Land eine Sehnsucht nach einem Politikertyp wie Emmanuel Macron, Barack Obama oder Justin Trudeau. Deshalb wird der nächste Kanzler jünger, eloquenter und wahrscheinlich ein Mann sein.

10.

Der Bundestag schrumpft

Schon das personalisierte Verhältniswahlrecht, die Kombination aus Erst- und Zweitstimmen, ist vielen Deutschen schwer zu erklären. Das Prinzip der Überhangmandate versteht aber wirklich kaum jemand. Und dass das kleine Deutschland eines der größten Parlamente der Welt hat, darf nicht sein. Die Zahl der Abgeordneten muss bei der nächsten Wahl nicht nur aus Kostengründen reduziert werden: Je größer der Bundestag, desto schwieriger werden dort vernünftige Diskussionen.