Frankreichs Hauptstadt steht am Tag nach dem Terroranschlag immer noch unter Schock. Mutmaßliche Täter waren den Behörden seit Langem bekannt
Paris. Frankreich versucht zu trauern, aber noch hält die Angst an. Beides gleichzeitig ist kaum auszuhalten. Paris erlebt ein Stahlbad der Gefühle. An der Place de la République, nur wenige Straßenecken von den Büros des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ entfernt, flattern am Donnerstag noch die bunten Zettel mit Trauer- und Solidaritätsbekundungen an Laternenmasten, die Bürger bei der spontanen Demonstration am Abend zuvor dort angebracht haben.
Das weiße Karussell auf dem Platz steht still und verlassen. An Bushaltestellen haben Menschen Cartoons aus „Charlie Hebdo“ geklebt, die Islamisten Witze entgegenschleudern. Auf einem grinst ein Mullah den Betrachter an und sagt: „Hundert Stockschläge, wenn Sie sich nicht totlachen!“ Daneben ein schnell gekritzelter Zettel, der zur Verteidigung der Freiheit aufruft.
Jeder, der an die Haltestelle an der Rue Oberkampf kommt, liest diese Botschaften. Niemand spricht. Die Medien schicken pausenlos Sofortnachrichten auf die Handys. Im Vorort Chatillon gibt es eine Schießerei. Ein Terrorverdächtiger. Zwei Polizisten sind verletzt, eine Beamtin stirbt. Protestmärsche werden abgesagt, aus Sicherheitsgründen. Die Politiker beginnen, ihre Haltung zu verlieren.
Einigkeit hatte der sozialistische Präsident François Hollande am Abend nach dem Attentat verkündet, einen festen Block der Demokraten gegen die Gewalt angemahnt. Und einige Stunden schien es, als bewahrten alle ruhig Blut. Doch während die Polizei den mutmaßlichen Islamisten durch Chatillon jagt, zeigt Justizministerin Christiane Taubira Nerven. Sie muss sich im Interview mit dem Radiosender France Info gegen den Vorwurf verteidigen, die Behörden hätten nicht genug getan, um die offensichtliche Gefahr zu bannen, die von den mutmaßlichen Tätern ausging – in Frankreich geborenen jungen Männern mit algerischem Familienhintergrund.
Der Hauptverdächtige saß wegen Terrorvergehen bereits im Gefängnis
Mindestens einer davon war schon wegen Terrorvergehen in Haft. „Man kann doch nicht jeden Ex-Häftling rund um die Uhr beschatten“, ruft Taubira aufgebracht. Nur 16 Prozent der militanten Islamisten hätten schon einmal im Gefängnis gesessen. Man solle nicht die Regierung angreifen, sondern ihr im Kampf gegen die Radikalen den Rücken stärken. „Sie werden nicht das letzte Wort haben“, ruft sie gleich zweimal hintereinander.
Nach allem, was man über die mutmaßlichen Attentäter weiß, ist es erstaunlich, wie lange sie unter den Augen der Behörden ein bürgerliches Leben und eine radikale Parallelexistenz führen konnten. Chérif Kouachi, 32, und Said Kouachi, 34, sind Brüder. Der Jüngere scheint der Radikalere zu sein. Er hat bereits dreimal im Gefängnis gesessen, unter anderem 2005, weil er einer Zelle angehörte, die junge Franzosen zu den Al-Qaida-Truppen im Irak schleuste. Auch wurde er verdächtigt, die gewaltsame Befreiung des algerischen Top-Terroristen Smaït Ali Belkacem aus dem Gefängnis geplant zu haben. Belkacem gilt als Drahtzieher der Pariser Terroranschläge von 1995, bei denen acht Menschen starben.
Geboren wurde Chérif Kouachi, 32, der auf einem Fahndungsfoto mit kahlrasiertem Kopf, bulligem Gesicht und Kinnbart zu sehen ist, 1982 in Paris, er ist französischer Staatsangehöriger. Er war Mitglied des nach einem Park im 19. Pariser Bezirk benannten „Buttes-Chaumont-Netzwerks“, das Dschihadisten zum Kampf gegen die US-Truppen in den Irak schickte. Chérif wurde 2005 festgenommen, kurz bevor er über Syrien selbst in den Irak reisen konnte. 2008 wurde er zu drei Jahren Haft verurteilt, davon 18 Monate auf Bewährung. Er soll auch Verbindungen zum französischen Islamisten Djamel Beghal unterhalten haben, der wegen der Vorbereitung von Anschlägen eine zehnjährige Haftstrafe absaß.
Außer Frage steht, dass Chérif wie sein Bruder Said, 34, im Umgang mit Waffen geübt waren. Sie hielten ihre Kalaschnikows beim Laufen nahe am Körper und gaben die Schüsse einzeln und nicht in Salven ab. Nachdem sie einen Polizisten erschossen hatten, kehrten sie ruhig zu ihrem Fluchtwagen zurück. „Sie haben in Syrien, im Irak oder anderswo Training bekommen, vielleicht sogar in Frankreich“, sagt ein Experte. „Aber es ist sicher, dass sie trainiert wurden.“
Der 18-jährige Hamyd M., der sich in der Nacht der Polizei stellte, soll ein Schwager der beiden am Donnerstag zunächst noch flüchtigen Verdächtigen sein. Er trage den gleichen Familiennamen wie Chérif Kouachis Frau, eine Kindergärtnerin. Seit einer Pilgerreise nach Mekka 2008 soll sie ihre Arbeit im Nikab nachgegangen sein, dem saudi-arabischen Vollschleier, der nur die Augen freilässt.
In einer Dokumentation des Senders France 3 zu einer 2005 enttarnten Al-Qaida-Zelle ist auch Chérif Kouachi zu sehen. Er sei noch vor Kurzem ein fröhlicher junger Mann gewesen, der sich Hoffnungen auf eine Rap-Karriere machte und Mädchen und Partys mochte, erzählen die Reporter.
An der Einmündung zur Rue Nicolas Appert ist kein Weiterkommen. Die Fernsehteams stauen sich vor den Gittern der Polizei, die den Weg zum „Charlie Hebdo“-Verlagssitz versperren. Dahinter sind Sicherheitskräfte zu sehen und immer noch Krankenwagen. Im Gewühl der Journalisten steht Laurent Hanoud. Er sei ein Freund des Karrikaturisten „Cabu“, sagt der Mittfünfziger. „Ich kannte ihn schon lange. Eigentlich wollte ich auch mal Comic-Zeichner werden. Seinetwegen. Er hatte diesen unglaublichen Strich. Er musste keine Linie noch mal zeichnen. Nie.“
Auf seinem Handy hat Hanoud das Foto einer Karikatur von „Cabu“ mitgebracht. Wie als Beweis, dass sie sich wirklich kannten. „So hat er mich mal gezeichnet“, sagt Hanoud, „um mir eine Freude zu machen.“ Die Zeichnung zeigt zweifelsfrei den kräftigen, grau gelockten Mann mit den etwas auswärts gerichteten Augen. Sie wirken geschwollen, leicht gerötet. „So was hat doch niemand verdient“, sagt Hanoud und schaut zum abgesperrten Verlagsgebäude hinüber. „Er hat doch niemandem etwas getan.“
Aber wie soll man solchen Ereignissen auch einen Sinn verleihen? Zu viel muss Hanoud unter einen Hut kriegen. „Ich kenne die arabische Welt“, sagt der Unternehmer. „Ich pendele zwischen Tunis und Paris. Das, was der Westen im Nahen Osten angerichtet hat, ist mitunter beschämend. Die Invasion im Irak 2003 zum Beispiel. Aber auch, wie Frankreich auf den Ausbruch der Revolution in Tunesien reagiert hat.“ Damals bot Verteidigungsministerin Michelle Alliot-Marie dem umkämpften Diktator Zine al-Abeddine Ben Ali die Hilfe französischer Spezialkräfte bei der Niederschlagung der Proteste an. Doch mit dem, was er sagt, will Hanoud nichts rechtfertigen, nichts begründen. „So was hat doch keiner verdient“, sagt er wieder. Er müsse jetzt zur Schule, seine Kinder abholen. „Und vor allem: sie beruhigen.“
Im Bürokomplex La Défense werden unterdessen die Mitarbeiter zur Wachsamkeit aufgerufen. Ein Bewaffneter sei gesehen worden, heißt es. Immer mehr Veranstaltungen werden abgesagt. Der Versicherungskonzern Axa verzichtet auf seine Neujahrsfeier. In der Nacht hat es auch Schüsse auf Moscheen in zwei Orten in Frankreich gegeben. Von den Tätern oder ihren Motiven weiß man nichts.
Die politischen Gegner der ohnehin angeschlagenen Regierung greifen derweil die allgemeine Verunsicherung auf. Marine Le Pen, die Chefin der rechtsextremen Front National, nutzt die Gelegenheit, um wieder einmal ein Referendum über die 1981 in Frankreich abgeschaffte Todesstrafe zu fordern. „Die Todesstrafe muss in unserem Arsenal juristischer Maßnahmen existieren“, sagt sie dem Fernsehsender France 2. „Ich habe immer gesagt, dass ich vorhabe, den Franzosen die Möglichkeit zu geben, sich bei einem Referendum zu dem Thema zu äußern.“ Die Aufklärungsdienste hätten nicht genügend Mittel. Die Polizeikräfte müssten wieder aufgestockt, die Grenzen Frankreichs besser geschützt werden. Dann wiederholt sie, dass es auch die Möglichkeit geben müsse, bestimmten Personen von der französischen Staatsbürgerschaft auszuschließen.
Ex-Präsident Nicolas Sarkozy von der konservativen UMP trifft sich währenddessen mit seinem Nachfolger Hollande im Élysée-Palast. „Ich habe die Einladung des Staatschefs angenommen, um das Klima der nationalen Einheit zu verdeutlichen. Dies ist angesichts des Angriffs auf die Zivilisation und die Republik durch entschlossene Fanatiker jedermanns Pflicht“, sagt er danach. „Zivilisierte Menschen müssen als Antwort auf diese Barbarei zusammenstehen.“ Aber auch er nutzt die Gelegenheit, Härte zu fordern: „Ich habe Hollande gesagt, dass es Entscheidungen zu treffen gibt“, erklärt Sarkozy. „Die Bedrohung entwickelt sich weiter, unsere Maßnahmen müssen sich weiterentwickeln.“ Am Freitag will auch Le Pen den Präsidenten treffen.
Um Punkt zwölf Uhr beginnen überall in Frankreich die Kirchenglocken zu läuten, um der Opfer des Attentats zu gedenken. Schüler, Mitarbeiter von Redaktionen, Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen versammeln sich im gesamten Land für eine Schweigeminute. Selbst die Metro-Bahnen und Busse in Paris stehen in diesem Moment still. Der Eiffelturm wird Donnerstagabend Trauer tragen. Seine Lichter sollen um 20 Uhr ausgeschaltet werden. Anne Hidalgo, die Bürgermeisterin von Paris, will „Charlie Hebdo“ am Freitag die Ehrenbürgerschaft verleihen. Sie ruft gemeinsam mit anderen politischen Vertretern der französischen Hauptstadt für Donnerstagabend zu einem neuerlichen Gedenkmarsch zum Place de la République auf. Vielleicht gelingt es Frankreich dann, einen Moment lang zu trauern.