Religionskriege verändern die Welt. Auch die Söldner des Islamischen Staats (IS) berufen sich auf Allah. Doch der Glaube wird oft nur vorgeschoben. In Wahrheit geht es um die Macht.
Als die Christen, Jesiden und Schiiten vor den „Gotteskriegern“ fliehen mussten, hatten sie alles verloren. „Hemmungslos“, sagt der syrisch-orthodoxe Erzbischof von Mossul (Nordirak), Mor Nikodemus Daoud Matti Sharif, nahmen die Milizen des Islamischen Staates (IS) ihnen Geld und den Schmuck ab. Selbst 0,5 Gramm leichte Ohrringe von sechs Monate alten Babys wurden beschlagnahmt – und die Pampers gleich mit.
Das alles geschieht im Namen Allahs, Mohammeds und der Scharia. Die Söldner berufen sich auf den Koran und verfolgen Andersgläubige mit Schwertern und Kalaschnikows. Wer nicht flieht, hat drei Möglichkeiten: den sunnitischen Glauben anzunehmen, hohe Steuern zu zahlen. Oder zu sterben.
Auch in anderen Teilen der Welt fordern Religionskriege täglich Opfer. In der Zentralafrikanischen Republik bekämpfen sich Christen und Muslime bis aufs Messer. Im asiatischen Myanmar werden buddhistische Mönche zu Prügelknaben, die auf Muslime einschlagen. „Sie schneiden uns sonst den Kopf ab“, behauptet der Mönch Wira Thu vom Kloster Mandalay. Derweil terrorisieren im afrikanischen Nigeria die islamistischen Boko Haram Andersgläubige und entführen Schulmädchen. Für Allah.
Doch ist es wirklich die Religion, die den Terror bringt? Ist die Religion tatsächlich das „Gift im Blut“, wie es der Schriftsteller Salman Rushdie einmal gesagt hat? Seit Langem debattieren Religionswissenschaftler, Ethnologen und Theologen darüber, ob Religion Gewalt macht. Oder ob der Glaube Frieden fördert. Eine These: Nicht der Glaube an Allah, Jahwe oder Gott löst religiös motivierte Gewalt aus. Dazu braucht es mehr: das exzessive Streben nach Macht, Reichtum, Einfluss, sexueller Befriedigung, die Lust am Morden. Die religiösen Systeme bilden lediglich die Maske, unter der sich die Banalität der Bösen und die Abgründe der Menschen verbergen können. Mit Gott und Allah wird das Morden und Rauben sanktioniert.
Mehr als 30 Jahre arbeitete in einem christlichen Frauenkloster von Mossul ein muslimischer Mann. Zuverlässig war er, wenn die Nonnen seine Hilfe als Handwerker benötigten. Dann rückten die Terrormilizen an. Die Frauen ergriffen rechtzeitig die Flucht. Doch kaum waren sie dabei, ihre Habseligkeiten vor den blutrünstigen Horden zu retten, fuhr der Muslim mit einem Traktor vor. Er begann vor den Augen der Nonnen das Kloster zu plündern und mitzunehmen, was nicht niet- und nagelfest war.
Der chaldäisch-katholische Bischof Emil Shimoun Nona erzählte diese Geschichte jüngst bei seinem Deutschland-Besuch. Sie ist kein Einzelfall. Überall, wo die islamistischen Dschihad-Söldner Land für ihren Kalifenstaat gewinnen, gibt es Mord, Plünderungen und Raub. Dabei gehen nicht nur die IS-Milizen skrupellos vor. Auch die früheren Nachbarn der Christen und Yeziden nutzen die Gunst der Stunde, um sich zu bereichern. Wie der muslimische Mann aus dem Frauenkloster.
Professor Günther Schlee, Direktor im Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle (Saale), hat in seinen Büchern „Wie Feindbilder entstehen“ und „How Enemies are Made“ belegt, dass die sogenannten Religionskriege recht wenig mit Theologie und Gottesglauben zu tun haben. Ursache der Konflikte sind vielmehr soziale und ökonomische Wirkkräfte. In seinen Publikationen verweist Schlee auf den Typus der Gotteskrieger, „die von ihrer Religion keine Ahnung haben“.
Der Kampf um materielle und politische Ressourcen ist die eigentliche Ursache für Gewalt. „Im Fall des Konflikts in Syrien und im Irak ist die umkämpfte Ressource der Staat“, sagt der Hallenser Wissenschaftler. „Der Erwerb staatlicher Macht kann in sich selbst das Ziel sein oder als Mittel betrachtet werden, um andere Ressourcen und Handlungsräume zu erschließen.“ Zum Beispiel Wasser und Öl. So hat der Islamische Staat inzwischen 17 Ölfelder im Irak und Syrien besetzt. Die Carnegie-Stiftung schätzt, dass aus dem Verkauf auf dem Schwarzmarkt Jahreseinnahmen von einer Milliarde Dollar sprudeln werden.
Auch in der Zentralafrikanischen Republik geht es um Ressourcen. Dort bekämpfen sich, vom Waffenstillstand unterbrochen, die muslimische Minderheit und die christliche Mehrheit. Jahrzehntelang waren die Muslime, die rund 15 Prozent der Bevölkerung stellen, von den Christen und der christlich geprägten Regierung benachteiligt. Bis aus dem Konflikt Gewalt wurde und die christlichen Anti-Balaka-Milizen und die muslimische Seleka-Allianz einander bekämpften. Wie Dieudonne Nzapalainga, katholischer Erzbischof von Bangui, sagt, gab kein einziger Priester, Imam oder Pastor den Befehl zum Töten. Es waren stets Politiker, die der einen oder anderen Gruppe angehörten. „Das hier“, sagt er, „ist kein religiöser, sondern ein militärisch-politischer Konflikt.“ Ziel der Kämpfe sei Macht und der Besitz von Bodenschätzen.
Bereits die Geschichte zeigt, dass der wahre Grund für religiöse Konflikte ökonomische Interessen sind; die Religion ist nur sanktionierender Rahmen. Bei der militärischen Expansion der Araber im siebten und achten Jahrhundert drehte sich alles ums Geld. „Christen und Juden sollten nicht bekehrt werden, sondern mit Steuern den islamischen Staat finanzieren“, sagt Stephan Schlensog, Geschäftsführer der Tübinger Stiftung Weltethos, die von dem katholischen Theologieprofessor Hans Küng initiiert wurde. Am Ende erstreckte sich das arabische Reich unter den Umaiyaden und Abbasiden von Nordspanien bis zum Himalaja.
Auch die Christianisierung Lateinamerikas im 15. und 16. Jahrhundert basierte auf der Gier der Europäer nach Gold. Gottes Name wurde für den Massenmord der heidnischen Ureinwohner missbraucht. Die römisch-katholische Kirche profitierte in erheblichem Maße von dem Genozid: Sie erhielt Grundbesitz. Die christliche Religion diente in erster Linie dazu, die Ausbeutung der Indios zu legitimieren. Die „Rettung der Seelen“ war zweitrangig.
Einer, der als Christ damals dagegen seine Stimme erhob, war Bischof Bartolomé Las Casas (1484–1566). Der Geistliche, der als Vorläufer der „Theologie der Befreiung“ gilt, schilderte das brutale Vorgehen der Konquistadoren so: „Wieder anderen, und zwar allen, die sie am Leben lassen wollten, schnitten sie beide Hände ab, hängten sie ihnen um und sagten: ‚Tragt diese Briefe aus‘, das heißt, überbringt die Botschaft den Leuten, die in die Berge geflohen sind. Gewöhnlich töteten sie die Herren und Adeligen auf diese Weise: Sie machten einen Bratrost aus Stäben, die sie auf Gabelstützen legten, darauf banden sie die Opfer fest, und unter ihnen entzündeten sie ein schwaches Feuer, damit sie ganz allmählich, während ihnen die Qualen verzweifelte Schreie abpressten, die Seele aushauchten.“
Viel zu oft wurde in der Geschichte der Glaube an Gott für politische und ökonomische Zwecke missbraucht. In den religiösen Systemen geht es nicht nur um das Heilige und die Ehrfurcht der Menschen davor, um Gebete und Seelenheil. Es geht auch um Macht, um wahre und falsche Götter. Wer so denkt, schließt mit Intoleranz Andersgläubige aus und überzieht sie mit Verachtung und Hass. Der Heidelberger Ägyptologe Jan Assmann vertritt die Auffassung, dass es Moses aus dem Alten Testament als Erster gewesen ist, der mit seinem Monotheismus religiös motivierte Gewalt provozierte. Heißt es doch im 1. Gebot: „Ich bin der Herr Dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Damit, so Jan Assmann, war die friedliche Koexistenz unter den Göttern erledigt. „Gewalt und Massaker“, sagt der Hallenser Wissenschaftler Schlee, „hat es immer gegeben, sogar in der Steinzeit. Aber Gewalt im Namen Gottes gibt es erst seit der mosaischen Unterscheidung im Sinne Assmanns.“
Wer freilich das 5. Gebot „Du sollst nicht töten“ aus der Bibel der Juden und Christen ernst nimmt, dürfte niemals die Hand gegen einen anderen erheben. Das Tötungsverbot aus den Zehn Geboten, dem „Grundgesetz des Menschen“ (Thomas Mann), dokumentiert indes das Frieden stiftende Potenzial der Religion. Welche unmittelbaren politischen Folgen dieses Ethos hat, macht zum Beispiel Leben und Werk des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen deutlich. Als die Nationalsozialisten mit dem Euthanasie-Programm „lebensunwertes Leben“ ermordeten, kritisierte der Geistliche als einer der wenigen die Todesmaschinerie des NS-Staates. In seinen Predigten von 1941 berief er sich auf das 5. Gebot: „Wehe den Menschen, wehe unserem deutschen Volk, wenn das heilige Gottesgebot: ‚Du sollst nicht töten!‘, das der Herr unter Donner und Blitz auf Sinai verkündet hat, das Gott unser Schöpfer, von Anfang an in das Gewissen der Menschen geschrieben hat, nicht nur übertreten wird, sondern wenn diese Übertretung sogar geduldet und ungestraft ausgeübt wird!“ Die Nazis stoppten nach dem Widerstand in Kirche und Volk das Euthanasie-Programm weitgehend. Für viele Menschen kam das allerdings zu spät.