Großbritannien will Volk über EU-Mitgliedschaft entscheiden lassen. Austritt der großen Volkswirtschaft ist nicht nur mehr graue Theorie.
London. Über dem Ärmelkanal lag am Mittwochmorgen dichter Nebel – der Kontinent war abgeschnitten, wie die Briten es aus ihrer Inselsicht beschreiben würden. Ein Zustand, für den in einigen Jahren vielleicht nicht einmal mehr schlechtes Wetter notwendig ist. Premierminister David Cameron hat den EU-Austritt Großbritanniens am Mittwoch zu einem realistischen Szenario werden lassen. Spätestens Ende 2017 sollen die Bürger über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union abstimmen.
Cameron will den Austritt nicht, wie er sagt. Er wolle sogar mit „Herz und Seele“ für den Verbleib seines Landes in Europa kämpfen und warnt schon jetzt, es gebe im Falle eines Austritts kein Zurück mehr. Zu wichtig ist ihm die Teilnahme am europäischen Binnenmarkt, den Wirtschaftsexperten für Großbritannien als lebenswichtig erachten. 50 Prozent der britischen Exporte gehen in die EU. Wichtige Firmen aus Übersee, etwa der Autobauer Toyota, sind in Großbritannien vor allem als Brückenkopf nach Europa.
Das wirtschaftlich angeschlagene, schuldengeplagte Großbritannien, das gerade um sein AAA-Rating kämpft, kann Unsicherheiten wie die Frage eines EU-Austritts eigentlich nicht brauchen – das meint nicht nur der liberaldemokratische Koalitionspartner Camerons. Dennoch betreibt der Premier das, was Oppositionschef Ed Miliband von der Labour-Partei ein „riesiges Glücksspiel“ nennt.
Die EU müsse flexibler werden, schlanker und demokratischer, forderte Cameron. Die Nationalstaaten müssten wieder mehr Rechte bekommen. Die Zustimmung der Bevölkerung sei auf einem Tiefpunkt angelangt. Die EU drohe zu scheitern, wenn sich nichts tue.
Wochenlang hatte der Premier einen europapolitischen Eiertanz vollführt. Getrieben vom rechten Flügel seiner eigenen Partei versuchte er es am Mittwoch schließlich mit einem Sturmlauf. Der Premier ging ganz nach dem Geschmack der britischen Volksseele aufs Ganze und forderte die klare Kante: „In or Out“. Kein Zeitspiel mehr, wie er es noch bis vor ein paar Tagen praktizierte, kein Taktieren, kein Zaudern.
Und wie auf Knopfdruck kommt der Beifall aus dem rechten Lager der Tories, dem der Parteichef ein weiteres Mal nachgegeben hat. Ex-Verteidigungsminister Liam Fox, der Cameron in den vergangenen Monaten mindestens zwei Abstimmungsniederlagen im eigenen Parlament zufügte, spendete dem Premierminister plötzlich Beifall: „Auf diese Rede eines britischen Premierministers haben wir seit Jahrzehnten gewartet“, sagte er in der BBC. Camerons innerparteilicher Erzfeind, Londons Bürgermeister Boris Johnson, stieß ins selbe Horn. Kein Wunder, dass die Opposition spottete, Cameron habe die Rede weniger an die EU gehalten, sondern an seine eigene Partei.
Doch Camerons europapolitisches Solo endete trotzdem ersteinmal an der Wand. Die Kritik der EU-Partner an Camerons Alleingang hätte harscher nicht ausfallen können. „Es darf keine neuen Extrawürste für Großbritannien geben“, sagte etwa der konservative österreichische Politiker Othmar Karas. Selbst aus Skandinavien, dessen Länder Cameron als natürliche Verbündete etwa beim Abbau von EU-Bürokratie ausgemacht hat, kamen ungewohnt kritische Töne.
„Flexibilität klingt gut. Aber wenn man das Tor aufmacht für ein Europa mit 28 Geschwindigkeiten, wird es am Ende gar kein Europa mehr geben. Nur noch Durcheinander“, sagte Schwedens Außenminister Carl Bildt. Großbritannien habe über Jahrzehnte mit seiner ständigen Blockadehaltung in Europa genau die Reformen verhindert, die es jetzt fordert, sagte der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz. „Rosinenpicken ist keine Option“, fasste Bundesaußenminister Guido Westerwelle die allgemeine Ansage in Richtung Insel zusammen.
Frankreichs Außenminister Laurent Fabius konnte nicht einmal richtig ernst bleiben: Ein Fußballer könne auch nicht einem Klub beitreten und dann plötzlich sagen, er wolle jetzt Rugby spielen, witzelte er und nutzte die Gelegenheit gleich zu einer Retourkutsche. Er werde britischen Unternehmen den „roten Teppich ausrollen“ für eine Ansiedlung in Frankreich, sollte Großbritannien aus der EU austreten. Aus Deutschland kamen diplomatischere Töne. Man begrüße sehr, dass Großbritannien an der Wettbewerbsfähigkeit Europas gelegen sei, ließ Bundeskanzlerin Angela Merkel wissen.