Am Sonntag wird im Nachbarland Polen gewählt. Allein der linke Außenseiter Janusz Palikot hat den Wettbewerb der Parteien belebt.
Warschau. Wenn ein Land in guter und die Opposition in schlechter Verfassung ist, ist der Wahlkampf flau. Wenn am Sonntag in Polen ein neues Parlament gewählt wird, wird man die Folgen besichtigen können: Soziologen rechnen mit einer niedrigen Wahlbeteiligung von etwa 50 Prozent (nach 53,9 Prozent vor vier Jahren). Die Bürgerplattform (PO) von Ministerpräsident Donald Tusk dürfte schaffen, was seit dem Ende des Kommunismus in Polen noch keiner Partei gelungen ist: für eine zweite Legislaturperiode in Folge an die Regierung gewählt zu werden. Umfragen sehen die liberalkonservative Partei als stärkste Kraft, gefolgt von der nationalkonservativen Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Jaroslaw Kaczynski, Zwillingsbruder des im Jahr 2010 bei einem Flugzeugabsturz umgekommenen Präsidenten Lech Kaczynski.
Nur einer mischt die Kampagne richtig auf: der Außenseiter Janusz Palikot, dessen Palikot-Bewegung damit rechnen kann, aus dem Stand die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen. Sie selbst sieht sich bei zehn Prozent und spricht bereits über die Verteilung der Ministerposten. Plötzlich reden alle über Palikot.
Schon das wäre ein Erfolg für den Unternehmer und Politiker, der in den letzten Tagen - für ihn untypisch - mit Krawatte auftrat, aber seinen wuscheligen Haarschopf keinen Zentimeter kürzer gemacht hat. Manche halten ihn für einen Krawallbruder und Spinner, andere für den "einzigen Hoffnungsträger der verknöcherten Polit-Szene". Palikot sticht mit seinen provozierenden Auftritten und Forderungen in alle möglichen Wespennester. Er ließ sich im Wahlkampf, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, in der Pose des gekreuzigten Jesus fotografieren und verkündete dazu: "Ich will der neue Messias der Linken sein, der die polnische Politik verändert." Palikot ist, was es in Polen mehrfach gegeben hat, aber nie mit so großen Erfolgschancen: ein radikalliberaler Populist. Noch dazu ist er antiklerikal - diese Einstellung war bisher zumeist den Postkommunisten vorbehalten.
Ob der 46 Jahre alte Mann aus dem südostpolnischen Bilgoraj wirklich ein Linker ist, darüber konnte man lange Zeit geteilter Meinung sein. Palikot studierte an der Katholischen Universität Lublin, der einzigen christlichen Hochschule des Ostblocks und einem Refugium für unangepasste Geister, Philosophie. Er schrieb seine Magisterarbeit über Immanuel Kant. 1990 gründete er eine Firma, die erfolgreich Schaumwein herstellte, später produzierte er Wodka. Er war in Arbeitnehmerverbänden aktiv und erhielt für seinen Einsatz "zum Wohle der polnischen Wirtschaft" das Goldene Verdienstkreuz. Er war beeindruckt von Papst Johannes Paul II. und sympathisierte mit der "Generation JP2". Erst 2005, als er als Unternehmer eine Niederlage erlitt und seine erste Ehe scheiterte, wechselte er in die Politik. In diesem Jahr erlebte Polen den Niedergang der Postkommunisten und den Aufstieg zweier Politiker, die derzeit wohl die wichtigsten des Landes sind: des liberalen Regierungschefs Tusk und seines national-konservativen Gegenspielers Jaroslaw Kaczynski. Damals hatte alles noch den unschuldigen Duft des Neuen. Palikot schloss sich Tusks Bürgerplattform an, kam ins Parlament, übernahm wichtige Funktionen und leitete dort unter anderem die Kommission "Der bürgerfreundliche Staat", die helfen sollte, die Bürokratie zurückzudrängen. Dies Anliegen steht auch heute in seinem Wahlprogramm.
Doch zunächst regierte Kaczynski. Seine Versuche, das überwiegend katholische Polen in einen Weltanschauungsstaat zu verwandeln, haben offenbar entscheidend dazu beigetragen, dass Palikot sich heute als "Linker" sieht. Zugleich erkannte der Parlamentsneuling, wie "rücksichtslos und zynisch Politik oft ist". Der Rebell war geboren: Palikot begann mit seinen Happening-ähnlichen Auftritten. Einer der bekanntesten war eine Pressekonferenz, auf der er gegen einen Fall von sexuellem Missbrauch durch Polizeibeamte protestierte. Dazu hantierte er mit einem Gummipenis. Ein großes Medienecho war ihm gewiss.
Bald lag er mit seiner Partei über Kreuz. Vor einem Jahr legte er sein Mandat nieder und gründete zugleich seine eigene Partei. Inzwischen sind das Verhältnis zur Kirche und Fragen der Sexualmoral zu seinen Kernthemen geworden. "Das moderne Polen ist ein säkulares Polen wie alle Länder des Westens", heißt es in seinem Programm. Deshalb fordert die Partei, den von Priestern in der Schule geleisteten und vom Staat bezahlten Religionsunterricht in die Kirchen zu verlegen. Die Teilnahme von Geistlichen an staatlichen Veranstaltungen müsse "verboten" werden. Außerdem: Ja zur Homo-Ehe, Ja zur Legalisierung weicher Drogen, Ja zur Liberalisierung des strengen Abtreibungsgesetzes.
Sonstige Forderungen: Statt der staatlichen Parteienfinanzierung müssten die Bürger einen Teil ihrer Steuern auf Wunsch zugunsten einer bestimmten Partei oder kirchlichen Gemeinschaft entrichten können. Palikot fordert auch eine geringere Staatsverschuldung, eine Halbierung der Verteidigungsausgaben, Erleichterungen für Kleinunternehmer und, infolge einer Steuersenkung, eine Einheitssteuer von 18 Prozent. In einem Interview mit "Newsweek Polska" äußerte er sich auch zur Außenpolitik: Er sei für einen engen Schulterschluss mit Deutschland und für eine "Lockerung des Bündnisses mit den USA".
Manche halten die Palikot-Bewegung für eine polnische "Piratenpartei", die von einer diffusen Politikerverdrossenheit profitieren könnte. Ihr schwächster Punkt ist jedoch: Außer dem Chef selbst und einem führenden Schwulenaktivisten gibt es in ihr keine bekannten Gesichter. Wie weit sie mit ihrem Feuerwerk von Ideen kommt, wird sich am Sonntag zeigen. Die Regierung steht nicht schlecht da: Premier Tusk sieht als ihr größtes Verdienst, Polen mit 3,8 Prozent Wachstum im vorigen und einem ähnlichen Wert in diesem Jahr gut durch die Krise gesteuert zu haben. Auf die Frage, ob er sich vorstellen könne, mit seinem abtrünnigen früheren Parteifreund eine Koalition zu bilden, winkt Tusk ab: "Ich kenne Palikots Talent zu Happenings, aber das Regieren ist kein Happening." Die neue Partei sei von "Skandal, Extravaganz und Übertreibung" geprägt, die regierende Bürgerplattform stehe dagegen für "Mäßigung, Stabilisierung und Sicherheit".
Doch erst einmal kommt der Wahltag. Der Polit-Rebell, der umgerechnet mehr als eine Million Euro aus der eigenen Tasche in seine Bewegung gesteckt hat, weiß, wie man Aufsehen erregt: "Ich bin bunt, markant, direkt. Hätte ich die Partei nicht so kontrastreich formatiert, also antiklerikal, proschwul, für Modernisierung, hätte mein Projekt überhaupt nicht gezündet."
Kaczynski hat im Wahlkampffinale sein Heil in antideutschen Ausfällen gesucht. Für den Fall seines Wahlsieges verspricht er Härte im Umgang mit den Nachbarn. "Ein polnischer Regierungschef sollte nicht in anderen Hauptstädten, etwa in Berlin, strammstehen. Ein polnischer Ministerpräsident sollte keine Angst haben vor einer deutschen Kanzlerin oder einem russischen Präsidenten", poltert er in Fernsehinterviews. Er wirft Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem gerade veröffentlichten Buch Großmachtstreben vor und dass es bei ihrer Wahl nicht mit rechten Dingen zugegangen sei. Vertriebenenpräsidentin Erika Steinbach will er in Polen zur Persona non grata erklären. Schon 2005 prägten antideutsche Töne den Wahlkampf, der mit einem Sieg der PiS endete.
Diesmal aber scheint das Rezept nicht zu verfangen. Die Wähler zeigen sich wenig beeindruckt. Nach einer Prognose des Instituts TNS OBOP, die am Freitag veröffentlicht wurde, hat die PiS mit 29 Prozent einen Rückstand von zehn Punkten auf Tusks Bürgerplattform mit 39 Prozent. In den meisten vorangegangenen Umfragen lagen beide Parteien mit je rund 30 Prozent der Stimmen Kopf an Kopf.
Und Polens Staatspräsident Bronislaw Komorowski hat schließlich von Kaczynski eine Entschuldigung bei Merkel für seine Ausfälle und Behauptungen gefordert. Die antideutschen Angriffe wurden auch von mehreren Außenministern des postkommunistischen Polen in einem gemeinsamen offenen Brief zurückgewiesen. Die Äußerungen im seinem Buch seien schädlich für Polen.