Seit fast 42 Jahren herrscht Muammar al-Gaddafi mit eiserner Hand über Libyen; jetzt ist er angeblich mit seiner Familie auf der Flucht.

Hamburg. Der Korse Albert Preziosi war ein Kriegsheld. Als französischer Kampfpilot focht er tapfer gegen die deutsche Luftwaffe und wurde 1943 über Russland abgeschossen. Zwei Jahre zuvor war der smarte Offizier in Libyen stationiert gewesen und hatte das Herz einer Einheimischen erobert. Die Affäre blieb nicht ohne Folgen. Preziosis Bruder erzählt, dass seine Mutter, wenn sie im Fernsehen einen berühmten Staatsmann sah, ausrief: "Guck mal, das ist genau Albert!" Der Name des Staatsmannes: Muammar al-Gaddafi.

Die Geschichte mit dem französischen Vater hat dem panarabischen und panafrikanischen Nationalisten Gaddafi nie recht gefallen; er gibt an, sein Erzeuger sei der Beduine Mohammed Abdul Salam al-Gaddafi gewesen. Jedenfalls kam er am 19. Juni 1942 in der Nähe der Stadt Surt zur Welt. Seine bescheidene Herkunft ließ nicht erahnen, dass ihn eines Tages (2008) mehr als 200 afrikanische Stammesführer und Könige zum "König der Könige" auf dem Kontinent ausrufen würden. Drei Jahre später neigt sich seine Macht inmitten eines erbitterten Bürgerkrieges wohl unaufhaltsam dem Ende zu.

Auf 42 Jahre Herrschaft blickt der Mann zurück, der sich mit Gerissenheit und Brutalität behauptete und jetzt mit seiner Familie auf der Flucht ins Ausland sein soll. Rund 80 Prozent der heute lebenden Libyer sind in dieser Zeit geboren; viele dürften sich jemand anderen als den "Bruder Führer" kaum vorstellen können. Befeuert wurde Gaddafis Karriere durch die an religiöse Verehrung grenzende Bewunderung für Gamal Abdel Nasser, den ägyptischen Präsidenten. Dieser hatte 1952 als Offizier den dekadenten und inkompetenten ägyptischen König Faruk I. gestürzt und die Idee des panarabischen Nationalismus proklamiert. Für einige Jahre war Nasser gar Präsident der Vereinigten Arabischen Republik, eines Zusammenschlusses aus Ägypten und Syrien. Gaddafi tat es ihm nach, er gab sein Jurastudium auf, um ebenfalls Offizier zu werden - und stürzte am 1. September 1969 mit seinem "Bund Freier Offiziere" den libyschen König Idris.

Muammar al-Gaddafi formte aus dem ehemaligen Königreich eine sozialistische Republik nach den Vorbild Ägyptens und gebärdete sich wütend antiwestlich. Nachdem ihn Ägyptens Geheimdienst im Dezember 1969 vor einem Coup gegen ihn gewarnt hatte, riss er für sich und seinen Clan die totale Macht im Lande an sich. Die von ihm favorisierte ägyptisch-libysche Staatenunion kam allerdings nicht zustande: Nassers Nachfolger Anwar al-Sadat ging auf Abstand zu Gaddafi und näherte sich dafür Israel und dem Westen an.

Seine nasseristischen, panarabischen Visionen ließen Gaddafi später Vereinigungen etwa mit Tunesien oder den Maghrebstaaten anstreben, doch kein Projekt wurde je verwirklicht.

Gaddafi förderte in den Achtzigerjahren einen antiwestlichen und antiisraelischen Terrorismus. Das Hauptquartier der radikalen Palästinenserorganisation Abu Nidal war jahrelang in Libyen. Gaddafi war es auch, der die Palästinenser dazu aufrief, Selbstmordattentate zu verüben, um Israel auszulöschen. Er gilt auch als Drahtzieher der Anschläge auf die von Amerikanern frequentierte Berliner Diskothek La Belle Anfang 1986 - wofür US-Präsident Ronald Reagan Tripolis und Bengasi bombardieren ließ -, vor allem aber auf Pan-American-Flug 103 über dem schottischen Ort Lockerbie mit 103 Toten. 1999 lieferte Gaddafi zwei dafür angeblich verantwortliche Geheimdienstagenten aus und zahlte 2,7 Milliarden Dollar an Entschädigungen.

Die Gründe für Gaddafis Einlenken waren außen- wie innenpolitischer Natur. Zum einen war Libyen schmerzhaften Sanktionen seitens der Uno ausgesetzt, die nun gestoppt wurden, zum anderen kam es aufgrund staatlicher Misswirtschaft zu sozialen Unruhen in Libyen. Gaddafi gab sich nach außen konziliant, trat als Vermittler im Drama um deutsche Geiseln islamistischer Terroristen auf der philippinischen Insel Jolo auf, demontierte sein ABC-Waffenprogramm - und verstärkte gleichzeitig seinen eisernen Griff nach innen. Anfang September 2006 rief er anlässlich des 37. Jahrestages seiner Machtergreifung zur Ermordung seiner innenpolitischen Gegner auf. Was in einigen Fällen dann auch geschah. Auch sollen im weithin berüchtigten Abu-Salim-Gefängnis in Tripolis rund 1270 Insassen zu Tode gefoltert worden sein.

Muammar al-Gaddafi förderte früh einen Kult um seine Person und seine Familie. Anwar al-Sadat beschrieb ihn als "unausgeglichen und unreif" und als "bösartigen Kriminellen". Für Reagan war er der "irre Hund des Mittleren Ostens". Selbst Fidel Castro nannte ihn "rücksichtslos", und für Palästinenserpräsident Jassir Arafat war Gaddafi der "Ritter der revolutionären Phrasen".

Gaddafi verfasste einen Gedichtband und brachte ein eigenes libysches Auto heraus, dem der internationale Erfolg bislang allerdings versagt blieb. Stets betonte er aus Leibeskräften seine Beduinenabstammung, nächtigte auf Staatsbesuchen im Ausland im mitgeschleppten Beduinenzelt und umgab sich mit einer Leibgarde aus libyschen Amazonen - was ihm den Spott der männergeprägten arabischen Welt eintrug. Dabei ist er alles andere als ein Mann des Volkes - das Vermögen seines Clans, der sich Schlüsselbereiche der libyschen Wirtschaft unter den Nagel gerissen hat, wird auf 80 bis 150 Milliarden Dollar geschätzt.

In seinem Tross führte Gaddafi stets eine Abteilung attraktiver ukrainischer Krankenschwestern mit sich. Berühmt wurde die unvermeidlich als "üppig" beschriebene Galyna Kolotnytska, die sich rechtzeitig absetzte, als sich die Wolken der Revolte über ihrem Arbeitgeber zusammenzogen. In Sicherheit, betonte sie, ihre Beziehung zum Revolutionsführer sei rein beruflicher Natur gewesen. Was etliche Journalistinnen wohl nicht von sich behaupten können. So wird berichtet, Gaddafi habe das eine oder andere Exklusivinterview nur gegen sexuelle Gefälligkeiten gegeben. Getürmte Mitglieder seines Betreuerstabs versichern, er sei von seinem Äußeren geradezu "besessen".

In diesem Jahr meldete sich ein brasilianischer Schönheitschirurg mit der Behauptung zu Wort, er habe Gaddafis Gesicht 1995 gestrafft, da der "Bruder Führer" Angst gehabt habe, zu alt zu wirken. Bei offiziellen Anlässen erscheint Gaddafi gern in farbenprächtigen Fantasieuniformen - was ihm mit Blick auf das gleichnamige Album und das Outfit der Popgruppe "Beatles" das Etikett "Sergeant Pepper" eintrug.

Muammar al-Gaddafi ist in zweiter Ehe mit der Krankenschwester Safaja Farkash verheiratet und hat insgesamt acht Kinder. Die einzige Tochter Aisha ist Anwältin und verteidigte - erfolglos - den später hingerichteten irakischen Diktator Saddam Hussein. Der älteste Sohn Muhammed führt die libyschen Telekommunikationsunternehmen sowie das libysche Olympische Komitee. Khamis, Mutassin-Billah und al-Saadi sind vor allem Militärs, Saif al-Arab soll bei einem Angriff der Nato getötet worden sein. Saif al-Islam ist Geschäftsmann, Politiker und galt bislang als potenzieller Nachfolger. Er wurde gestern Nacht, ebenso wie zwei andere Söhne des Diktators, verhaftet. Das sagte der Vertreter des Nationalen Übergangsrats für Tripolis, Sidik al-Kibir.