Bei Straßenschlachten in Kairo sind mehrere Menschen gestorben, Hunderte wurden verletzt. Ägypten steht am Rand des Bürgerkriegs.
Kairo/Washington. Die Lage in Ägypten beruhigt sich nicht. Auch Mubaraks Ansage, im September nicht weiter kandidieren zu wollen, konnte die Demonstranten nicht besänftigen. Im ägyptischen Staatsfernsehen sind alle Demonstranten aufgefordert worden, den Tharir-Platz zu verlassen. Unterdessen teilte das Gesundheitsministerium in Kairo mit, dass drei weitere Menschen ums Leben gekommen sind. Am Abend erklärte Gesundheitsminister Ahmed Sameh Farid, bei zweien der Todesopfer handele es sich um junge Männer, die von Rettungskräften vom Tahrir-Platz weggebracht worden seien. Einer sei bereits tot gewesen, der andere sei später im Krankenhaus seinen Verletzungen erlegen. Ein dritter Mann stürzte von einer Brücke in der Nähe des Platzes in den Tod. Er habe zivile Kleidung getragen, sei aber möglicherweise ein Mitglied der Sicherheitskräfte gewesen, erklärte Farid. 600 Menschen seien bei den blutigen Straßenschlachten verletzt worden. Das Weiße Haus erklärte, die Art und Weise, wie Präsident Husni Mubarak mit der Krise umgehe, werde der Welt zeigen, wer er wirklich sei. Sollte die ägyptische Regierung die Gewalt am Mittwoch angestiftet haben, müsse das umgehend aufhören. Die USA würden die Hilfe in Höhe von 1,5 Milliarden für das Land überdenken.
Blutende Demonstranten, Steinehagel, Brandsätze, weinende Menschen: In Ägypten regiert das Chaos. Die Lage in der Hauptstadt Kairo ist außer Kontrolle geraten. Auf dem Tahrir-Platz im Zentrum der Millionenstadt prügelten Tausende Anhänger und Gegner von Staatschef Husni Mubarak wild aufeinander ein, es flogen Steine, Flaschen und später sogar Molotowcocktails. Damit hat der seit einer Woche andauernde Aufstand in Ägypten eine neue Dimension erreicht. Deutschland und andere Staaten reagierten besorgt und kritisierten den Ausbruch der Gewalt.
Am Rande des Platzes, in der Nähe des weltberühmten ägyptischen Museums, warfen Anhänger Mubaraks von Dächern aus Steine und Brandsätze auf die Menschenmasse unter ihnen. Auf dem Museumsgelände ging ein Baum in Flammen auf. Auf den Straßen verschanzten sich die verfeindeten Gruppen hinter abgestellten Lastwagen und bewarfen sich mit Betonbrocken und Flaschen. Die Opposition erklärte, unter den prügelnden Anhängern Mubaraks seien viele Polizisten in ziviler Kleidung gewesen.
Blutverschmierte Regierungsgegner wurden in eilends eingerichtete Kliniken in Moscheen und Alleen eingeliefert. Einige baten die aufmarschierten Soldaten um Schutz. Doch die feuerten lediglich einige Warnschüsse in die Luft.
Zuvor waren die ägyptischen Streitkräfte mit gepanzerten Fahrzeugen auf den zentralen Tahrir-Platz vorgerückt und hatten versucht, Barrikaden zwischen den Gruppen zu errichten, wie dapd-Fotograf Axel Schmidt vom Ort des Geschehens berichtete. Zahlreiche Menschen wurden verletzt weggetragen. Die Anhänger Mubaraks seien am Nachmittag in einer offenbar organisierten Aktion mit „massenweise Kleinbussen“ angerückt und auf die Demonstranten losgestürmt, berichtete er. Einige der Männer seien auch mit Pferden und Kamelen auf die Menschenmassen zugeritten und hätten dabei mit Stöcken auf die Regierungsgegner eingeschlagen.
Bundesaußenminister Guido Westerwelle forderte die ägyptischen Sicherheitsbehörden auf, keine Gewalt gegen Demonstranten anzuwenden. „Jede weitere Eskalation der Situation muss unbedingt vermieden, Schlägertrupps muss unverzüglich Einhalt geboten werden“, sagte er. „Die Szenen der Gewalt auf den Straßen von Kairo werfen die drängende Frage auf, ob die politische Führung Ägyptens die Notwendigkeit des schnellen demokratischen Umbaus verstanden hat“, sagte Westerwelle. Er telefonierte auch mit dem ägyptischen Oppositionsführer Mohammed ElBaradei.
In Medienberichten war von über 100 Verletzten die Rede, darunter auch Journalisten. Ein Reporter der Nachrichtenagentur AP sah, wie rund 3.000 Anhänger Mubaraks am Nachmittag eine Menschenkette durchbrachen, die die etwa 10.000 Demonstranten zum Schutz der Menschen auf dem Platz gebildet hatten. Die Angreifer rissen Plakate nieder, auf denen Mubarak kritisiert wurde, und schlugen mit Stöcken und Peitschen auf die Demonstranten ein. Auf dem Platz der Befreiung waren viele Menschen mit blutigen Gesichtern zu sehen, einige Männer und Frauen weinten.
Zuvor hatte die Armee den Platz bewacht und beide Lager voneinander getrennt. Als die Zusammenstöße begannen, griffen die Soldaten zunächst nicht ein, sondern verschanzten sich in oder hinter ihren Schützenpanzern und Panzern an den Zugängen zum Platz.
Die Streitkräfte hatten vergeblich ein Ende der Demonstrationen gefordert. Ein Militärsprecher sagte vor der Eskalation in einer Fernsehansprache, die Botschaft der Demonstranten sei angekommen, ihre Forderungen seien bekannt. Jetzt müsse das normale Leben im Land wiederhergestellt werden. Die Streitkräfte forderten, die Demonstranten müssten sich „aus Liebe zu Ägypten“ zurückziehen.
Als Zeichen einer Normalisierung war das Internet am Mittwoch nach tagelanger Sperrung in Ägypten wieder zugänglich. Das bisher von 15.00 Uhr bis 08.00 Uhr geltende Ausgehverbot wurde auf 17.00 Uhr bis 07.00 Uhr verkürzt.
Die US-Regierung begann unterdessen mit dem Abzug alle nicht unbedingt notwendigen Mitarbeiter in Ägypten. Die Botschaft teilte mit, es würden voraussichtlich mehr als 1.000 US-Bürger innerhalb der nächsten zwei Tage Ägypten verlassen, darunter Regierungsmitarbeiter und andere Bürger. Das Weiße Haus sei tief besorgt über Angriffe gegen friedliche Demonstranten und Medienvertreter in Kairo, erklärte Sprecher Robert Gibbs am Mittwoch.
Zugleich rief Washington erneut alle Seiten zur Zurückhaltung auf. US-Präsident Barack Obama hatte Mubarak in einem Telefonat am Dienstagabend dazu gedrängt, angesichts der Massenproteste einen sofortigen und geordneten Übergang zu einer neuen Regierung einzuleiten.
Der britische Premierminister David Cameron erklärte, die gewaltsamen Szenen in Kairo zeigten, dass die Regierung von Präsident Mubarak den Forderungen der Demonstranten nicht rasch genug nachkomme. Die Arbeit hin zu einer neuen Regierung müsse „schnell und glaubwürdig sein, und sie muss jetzt beginnen“. Der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy betonte, es müsse Veränderungen „ohne Verzögerung“ geben.
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon verurteilte den Gewaltausbruch in Kairo als nicht hinnehmbar. Jeglicher Angriff auf friedliche Demonstranten sei inakzeptabel. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton erklärte, Mubarak müsse auf den Willen des Volks eingehen.
Mubarak hatte am Dienstagabend in einer zehnminütigen Fernsehansprache angekündigt, dass er im September nicht mehr bei der Präsidentenwahl kandidiert. Die Forderung von Hunderttausenden Demonstranten, sofort zurückzutreten, lehnte der 82-Jährige aber ebenso wie einen Gang ins Exil ab. (dapd)