Die geheimen Depeschen geben erschreckende Einblicke in die globale Diplomatie. Zweifel an der Verlässlichkeit der türkischen Führung.
Hamburg. Der außenpolitische Schaden für die Vereinigten Staaten ist noch nicht absehbar: Unter den 243.270 diplomatischen Depeschen und 8017 politischen Anweisungen des US-Außenministeriums, die die Internetplattform WikiLeaks derzeit veröffentlicht, befinden sich zahlreiche brisante Enthüllungen und Einschätzungen. Sie werfen ein Schlaglicht auf die Sichtweise der amerikanischen Diplomatie auf die Welt. Aber auch darauf, wie die Führer anderer Staaten einander wahrnehmen.
Europa und die Türkei
Wie die USA vorgehen, um Ziele zu erreichen, zeigt der Umgang mit Slowenien. Washington bot der Regierung in Ljubljana an, sie könne den lang ersehnten Gesprächstermin mit US-Präsident Barack Obama haben - aber nur, wenn Slowenien einen Gefangenen aus Guantánamo aufnimmt.
Der russische Ministerpräsident Wladimir Putin wurde in den Depeschen nach Washington als "Alpha-Rüde" eingeordnet, der alle anderen politischen Figuren in den Schatten stelle. Allerdings werde diese Macht durch eine unführbare Bürokratie unterminiert, die seine Erlasse häufig einfach ignoriere. Putins Nachfolger auf dem Präsidentensessel, Dmitri Medwedew, wird als "blass" und "zögerlich" beurteilt. Seine Ehefrau Swetlana allerdings gilt als gefährlicher: Sie schaffe Spannungen zwischen den politischen Lagern in Moskau und habe schwarze Listen mit russischen Amtsträgern angelegt, die gegenüber ihrem Mann nicht hinreichend loyal seien.
Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy steht in den Dokumenten als "Kaiser ohne Kleider" da. Noch schlimmer trifft es den italienischen Premier Silvio Berlusconi: Die US-Diplomaten bewerten ihn als "körperlich und politisch" schwach; seine Vorliebe für Partys erlaube ihm nicht, genügend Erholung zu bekommen. Zudem sei er "inkompetent und aufgeblasen".
Besonders brisant ist das Urteil der amerikanischen Diplomaten über die türkische Regierung. Deren Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan wird als Mann beschrieben, der die Türkei in eine islamistische Zukunft führe.
Möglicherweise sei die Türkei für Europa bereits verloren. Erdogan inszeniere sich als "Volkstribun von Anatolien" und umgebe sich mit einem "eisernen Ring von unterwürfigen Beratern".
"Besonders gefährlich" sei jedoch Außenminister Ahmet Davutoglu mit seinen neo-osmanischen Visionen. Ein Berater von Erdogans Regierungspartei AKP habe geäußert: "Wir wollen Andalusien zurück und uns für die Niederlage 1683 vor Wien rächen." Viele Mitglieder der Regierung seien Angehörige einer muslimischen Bruderschaft.
Naher Osten und Iran
Besonders explosive Details finden sich in den US-Depeschen, die den Krisenherd Iran betreffen. Sie zeigen eine arabisch-israelisch-amerikanische Achse gegen Teheran. Die sunnitischen Araber sind seit Jahrhunderten Gegner und Rivalen der schiitischen Perser und fürchten nun, dass der Iran mittels Atomwaffen zur uneingeschränkten Vormacht in der Region aufsteigen könne. Den US-Berichten nach lassen die Golf-Araber ihre Botschaften inzwischen sogar von Israel an die USA überbringen. Sowohl der saudi-arabische König Abdullah als auch Israels Verteidigungsminister Ehud Barak sollen die US-Regierung dazu aufgefordert haben, den Iran zu bombardieren, bevor Teheran eine Atombombe zur Einsatzreife bringen kann. König Hamad ibn Isa al-Khalifa von Bahrain, wo die Fünfte Flotte der US-Marine liegt, habe dazu erklärt, das iranische Atomprogramm müsse gestoppt werden. Es einfach weiterlaufen zu lassen berge eine größere Gefahr, als es zu stoppen. Und der Außenminister der Vereinigten Arabischen Emirate habe gesagt, der iranische Präsident Mahmud "Ahmadinedschad ist Hitler". Aus den Dokumenten geht zudem hervor, dass Nordkorea dem Iran Raketen mit bis zu 3000 Kilometern Reichweite geliefert hat, die Atomsprengköpfe tragen können.
US-General David Petraeus wird in den Unterlagen angesichts der Achse zwischen Arabern und Israelis mit den USA mit der Einschätzung zitiert, der Iran sei für die USA "das beste Rekrutierungsinstrument" - die Zahl der Partnerschaften und Militärabkommen habe deutlich zugenommen.
Doch als besonders entlarvend über das Innenleben des Regimes gilt eine Passage, in der berichtet wird, wie der Stabschef der mächtigen Revolutionswächter, Mohammed Ali Dschaafari, Ahmadinedschad ins Gesicht geschlagen habe, weil der Präsident sich für mehr Pressefreiheit eingesetzt habe.
Bezüglich des Irak-Konflikts sei der ägyptische Staatspräsident Husni Mubarak den US-Diplomaten mit langen Vorträgen auf die Nerven gegangen, in denen er unablässig betonte, dass der Irak-Krieg "der größte je begangene Fehler" gewesen sei. Die US-Regierung, riet Mubarak, solle "alles über Demokratie im Irak vergessen" und dort lieber einen Militärputsch inszenieren.
Asien
Der afghanische Präsident Hamid Karsai, Partner der USA im Kampf gegen die aufständischen Taliban und das Terrornetzwerk al-Qaida, gilt den US-Diplomaten als "schwache Persönlichkeit", getrieben von "Paranoia und Verschwörungsvorstellungen". Mit Afghanistans Nachbarn Pakistan, der labilen Atommacht, sind die USA den diplomatischen Berichten nach in einen gefährlichen Konflikt geraten. Washington habe ein Geheimunternehmen gestartet, aus einem pakistanischen Forschungsreaktor hoch angereichertes, also für Atomwaffen geeignetes Uran zu entnehmen, damit es Terroristen nicht in die Hände fallen kann.
Jemens Staatschef Ali Abdullah Saleh hat laut WikiLeaks sein Volk vorsätzlich belogen, indem er die US-Angriffe gegen al-Qaida im Jemen als Operationen der eigenen Armee ausgab. "Wir werden weiterhin sagen, dass es unsere Bomben sind, nicht ihre", wird Saleh zitiert. Über Mehriban Alijewa, Gattin des aserbaidschanischen Staatschefs, spotteten die US-Diplomaten wenig charmant, sie habe sich so oft liften lassen, dass sie nun zwar von Weitem ihrer Tochter ähnlich sehe, dafür aber das Gesicht kaum noch bewegen könne.