Die WikiLeaks-Enthüllungen erfordern einen neuen Polit-Diskurs.
Die Welt der Hinterzimmerpolitik, so viel ist spätestens seit der dritten WikiLeaks-Enthüllung in diesem Jahr klar, wird nie mehr sein wie bisher. Behandelten die Dossiers über Afghanistan und den Irak vor allem US-Interna, ist von den jüngsten Akteneinsichten aus dem State Department nun der halbe Erdball betroffen: Politiker von Italien bis Venezuela, ihre Entourage, Medien, Wahlvolk. Mögen sich die Staatschefs beflissen die Hände schütteln - WikiLeaks zeigt, was man wirklich voneinander hält. Und die Lecks sind überall. Das ist nicht nur ein Affront für die Diplomatie, sondern zugleich eine Zäsur für die Kultur des Inoffiziellen. Das gute alte Geheimtreffen existiert nur noch auf dem Papier.
Schuld daran ist das Internet. Sobald Mitschriften interner Absprachen online und in Datenbanken abrufbar sind, gelten sie von nun an als potenziell WikiLeaks-fähig. Sicher, Geheimnisverrat gibt's seit Adam und Eva, nur war die Kontaktaufnahme zu den geeigneten Medien bisher nicht immer leicht. Heute können sich im Zweifelsfall auch Aushilfskräfte Zugriff auf heikle Daten via Computer beschaffen, alles Weitere geht mit ein paar Klicks - und ganz anonym.
Die Konsequenzen sind aus medialer Sicht zunächst so unterhaltsam (was wird Westerwelle wohl Guttenberg beim nächsten Vier-Augen-Gespräch sagen?) wie erhellend. Dass sich gleich mehrere arabische Staaten hinter den Kulissen für einen Militärschlag gegen Iran einsetzen oder dass führende Politiker in China ein vereintes Korea unter Süd-Führung erwägen, um Kim-Jong-il loszuwerden, sind schlicht hochinteressante Neuigkeiten. Brenzlig wird es, wenn geheimdienstliche Aktivitäten tangiert und Menschenleben bedroht werden. Die Frage, wie die Welt sich hierbei strafrechtlich wappnet, zählt zu den drängendsten der nahen Zukunft.
Der größte WikiLeaks-Einschnitt aber betrifft den politischen Diskurs per se. Die Obamas, Putins und Merkels können weniger denn je sicher sein, dass die alte Grenze zwischen "öffentlich" und "off the record" noch ihrer Kontrolle unterliegt. Sie könnten nun ihr Heil in noch mehr Verheimlichung suchen, doch dies wäre in etwa so aussichtsreich wie der Kampf der Musikindustrie gegen illegale Downloads. Besser, sie ergreifen die Flucht nach vorn. Der neue kategorische Imperativ der WikiLeaks-Ära könnte lauten: Sage stets, was du wirklich denkst, denn es kommt eh irgendwann raus. Das große Versprechen des Internets, mehr Transparenz, kommt auf die Art vielleicht doch noch zu seinem Recht.