Die letzten US-Kampftruppen haben das Land verlassen. Die Zukunft ist unsicherer denn je - die irakische Armee verfügt kaum über schwere Waffen.
Hamburg. Kurz nach vier Uhr morgens rollte der letzte Stryker, ein rund 20 Tonnen schwerer Achtrad-Schützenpanzer, über den Grenzübergang Chabari auf kuwaitisches Territorium. Knapp siebeneinhalb Jahre nach dem Einmarsch der US-Armee und ihrer Verbündeten aus 50 Staaten verließ damit gestern offiziell die letzte amerikanische Kampfeinheit den Irak . Zwar wurden im Laufe des Tages noch 2000 weitere Angehörige der Kampftruppen von Bagdad ausgeflogen , auch bleiben noch rund 6000 Soldaten von Eliteeinheiten bis zum Monatsende im Irak, doch markierte der Abzug der 4. Stryker-Brigade als Teil der 2. US-Infanteriedivision das "Ende der Operation Iraqi Freedom", wie US-Außenamtssprecher Philipp Crowley in Washington erklärte. Er sprach von einem "historischen Moment".
Antony J. Blinken, der Nationale Sicherheitsberater von US-Vizepräsident Joe Biden, sagte der "New York Times": "Das große Bild, das wir in den letzten eineinhalb bis zwei Jahren im Irak gesehen haben, zeigt Folgendes: Die Zahl der gewaltsamen Zwischenfälle ist beträchtlich gesunken, die Kompetenz der irakischen Sicherheitskräfte ist beträchtlich gestiegen, und die Politik hat sich zur Grundlage des Handelns im Irak entwickelt."
Weit weniger euphorisch äußerte sich der frühere irakische Außenminister Tarik Asis gegenüber dem Londoner "Guardian". Es war das erste Interview des früheren Vertrauten von Staatspräsident Saddam Hussein nach dessen Sturz 2003. Darin wirft Asis US-Präsident Barack Obama vor, mit dem raschen Truppenabzug den Irak "den Wölfen" vorzuwerfen. "Wir sind alle Opfer von Amerika und Großbritannien", erklärte Asis. "Sie haben unser Land auf mannigfache Weise hingemordet." Sein Land sei nun in einem schlimmeren Zustand als vor dem Krieg, es sei zerstört. "Es gibt mehr Kranke als früher, mehr Hungernde. Den Menschen stehen keinerlei Dienstleistungen zur Verfügung. Jeden Tag werden Menschen zu Dutzenden, wenn nicht Hunderten getötet", sagte der zu insgesamt 22 Jahren Haft verurteilte 74-Jährige.
"Noch nie zuvor hat der irakische Staat unabhängig vom US-Militär in so großem Maßstab in einem Umfeld operiert, das derart bedrohlich ist", warnte der frühere US-Botschafter James Dobbins, ehemals Sonderbeauftragter für die Krisenstaaten Afghanistan, Bosnien, Haiti, Kosovo und Somalia.
Die USA, die mehr als 4400 Soldaten seit 2003 im Irak verloren haben, wollen das Land mit dem Abzug der Kampftruppen allerdings nicht militärisch allein lassen. Zunächst bleiben rund 56.000 US-Soldaten im Irak, die aber im Wesentlichen Ausbildungsaufgaben übernehmen sollen. Sie sollen Ende 2011 ebenfalls abziehen. Nur noch eine kleine Minderheit der Iraker ist für einen Verbleib der Amerikaner.
Die US-Regierung will bestimmte militärische Aufgaben privaten Sicherheitsfirmen übertragen; es ist dabei an rund 7000 "private contractors" gedacht, wie Söldner offiziell genannt werden. In Afghanistan wirft Präsident Hamid Karsai diese Firmen nach vielen schlechten Erfahrungen gerade aus dem Land.
Die irakische Armee ist bislang rund 160.000 Mann stark und soll bis auf 275.000 Soldaten ausgebaut werden. Bislang verfügt sie kaum über schwere Waffen. Ihr steht eine Vielzahl an kurdischen, schiitischen und sunnitischen Milizen gegenüber. Alle drei Gruppen sind in der Lage, jeweils mehrere Zehntausend Bewaffnete aufzubieten. Sie sind allerdings auch untereinander heftig verfeindet. Terrorgruppen wie al-Qaida im Irak erhalten massive Unterstützung aus dem Ausland. Vor allem aber die wachsende Macht des benachbarten Iran - Iraks Gegner des von Saddam Hussein vom Zaun gebrochenen ersten Golfkriegs von 1980 bis 1988 - wirft einen langen Schatten über das zerrissene Mesopotamien. Diesem Einfluss versucht Irans sunnitischer Erzrivale Saudi-Arabien zu begegnen, indem das Königreich sunnitische Gruppen unterstützt. Die Rivalität zwischen Persern und Arabern ist jedoch kein Phänomen der Neuzeit, sondern viele Jahrhunderte alt. Um die Spannungen zwischen Arabern und Kurden abzubauen, hatte der oberste US-Befehlshaber im Irak, General Ray Odierno, Kontrollposten aus amerikanischen wie irakischen Soldaten sowie kurdischen Peshmerga-Kämpfern installiert. Doch diese Posten dürften mit dem Abzug der US-Truppen wegfallen.
Der frühere US-Botschafter im Irak von 2007 bis 2009, Ryan Crocker, sieht zudem eine Gefahr in einer zu starken irakischen Armee: Aufgabe der verbleibenden US-Truppen sei es auch, die irakischen Generale davon abzuhalten, ein Militärregime zu errichten.
Saddam Hussein hatte mit eiserner Faust und brutaler Gewalt verhindert, dass der Irak - entstanden 1920/21 aus den ehemals türkisch-osmanischen Provinzen Basra, Mossul und Bagdad - in einen schiitischen, sunnitischen und kurdischen Teil zerfallen konnte. Die Sicherheitskräfte des Diktators metzelten Zehntausende der überwiegend schiitischen Marsch-Araber im Süden und der Kurden im Norden nieder. Obwohl zwei Drittel der Iraker Schiiten sind, beherrschte das sunnitische Saddam-Regime in Bagdad das Land total.
Ein territorialer Zerfall des Irak etwa aufgrund der Bestrebungen des Iran oder der kurdischen Separatisten, die bereits jetzt im Norden de facto einen eigenen Staat betreiben, wäre ein gravierender Vorgang für den Nahen und Mittleren Osten mit unabsehbaren sicherheitspolitischen Konsequenzen.