Der chinesische Regierungschef Wen Jiabao mahnt ein Jahr vor seinem Abschied zu Reformen. Das Polizeirecht wurde zuletzt verschärft.
Peking. An die barbarische Kulturrevolution zu erinnern, an das bürgerkriegsähnliche Chaos, das Diktator Mao Tse-tung entfesselte, ist in chinesischen Polit-Debatten ein Tabu. Bis jetzt. Denn Premier Wen Jiabao hat das unbewältigte Trauma in einer live übertragenen Pressekonferenz zum Abschluss des Volkskongresses gleich mehrfach erwähnt. Er warnte vor dem Rückfall, vor einer neuen Kulturrevolution, weil Chinas Reformen unvollendet geblieben seien und Ungerechtigkeiten sowie soziale Spannungen im ganzen Land hergerufen hätten.
35 Jahre nach dem Tod Maos, dem Beginn wirtschaftlicher Reformen und politischer Öffnung stecke die zweitwichtigste Volkswirtschaft und größte Handelsmacht der Welt "in einer Krise", mahnte der Premier. China sei ohne politische Reformen nicht in der Lage, die "neuen sozialen Probleme zu lösen. Es könnte erneut zu einer historischen Tragödie wie der Kulturrevolution kommen."
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Drei Stunden dauerte die ungewöhnliche Pressebegegnung in der Großen Halle des Volkes. Es war die längste, die der 69-jährige Wen je absolvierte. Er erklärte, er wolle ein Fazit seiner zehnjährigen Amtszeit als Ministerpräsident ziehen. Turnusgemäß endet seine Amtszeit in einem Jahr. Dann wird Chinas neue Regierung unter dem designierten Nachfolger und bisherigen Vizepremier Li Keqiang gewählt werden. Das künftige Kabinett wird auf einem großen Wahlparteitag vorab bestimmt. Dort tritt zugleich Vizestaatschef Xi Jinping als neuer KP-Parteichef die Nachfolge des derzeitigen Parteivorsitzenden Hu Jintao an.
Premier Wen nutzte den von ihm selbst als "meine letzte Pressekonferenz vor dem Amtswechsel" bezeichneten Auftritt, um seine Nachfolger in Partei und Regierung aufzufordern, die überfälligen politischen Reformen mutig anzugehen. Dafür hatte er sich schon früher mehrfach ausgesprochen. Ohne Veränderungen, ist Wen überzeugt, drohe dem erstarrten politischen System eine Zerreißprobe, möglicherweise der Kollaps. Noch nie hatte er sich allerdings so deutlich geäußert.
Die neue Debatte wurde von Reformökonomen wie dem 82-jährigen Staatsratsforscher Wu Jinglian oder dem Sozialwissenschaftler Sun Liping losgetreten. Wu kritisiert soziale Ungleichheiten, wirtschaftliche Schieflagen und vor allem die weitverbreitete Korruption. Sozialforscher Sun, der mehr als 180 000 größere und kleinere Protestzwischenfälle im Land seit 2010 protokolliert hat, sieht China an schwerer "sozialer Parodontose" leiden und in einer "Transformationsfalle" stecken. Beim Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft sei es auf dem Weg, der ihm von Reformarchitekt Deng Xiaoping gewiesen worden sei ("Stein um Stein den Fluss zu überqueren"), in der Mitte des Stroms stehen geblieben. Ohne politischen Reformdruck seien mächtige staatliche Konzerne, Monopolisten oder Immobiliengruppen nicht mehr daran interessiert, das andere Ufer zu erreichen. Für sie zahlten sich die lukrativen Bündnisse von Macht und Markt aus, solange sie in der Mitte des Flusses stehen blieben. Sie seien "nicht gerade süchtig danach, von Stein zu Stein zu laufen".
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Auch Premier Wen spricht über Lobbygruppen, etwa im Wohnungs- und Eigenheimbau. Bei 1,3 Milliarden Menschen und dem Tempo ihrer Urbanisierung werden gigantische Geschäfte gemacht. Der Staatsrat habe seit 2003 immer wieder vergeblich versucht, die überhitzte Preisentwicklung zu bremsen, doch alle Maßnamen seien verpufft. Tatsächlich blockierten Interessengruppen von Finanz- und Immobilienmaklern, Baugesellschaften sowie Katasterämtern in den Provinzen, die sich über Bodenverpachtung finanzieren, jede Maßnahme zur Marktberuhigung. Erst mit kombinierten administrativen und wirtschaftlichen Maßnahmen kann Peking seit zwei Jahren auf die Bremse treten. Der Premier sagt: Sobald er lockerlasse, würde die Blase sofort wieder anwachsen. Wen bestätigt erstmals, wie viel Angst in Peking vor einem Platzen der Blase herrscht. "Wenn das passiert, ist nicht nur der Immobilienbereich, sondern dann ist unsere gesamte Wirtschaft betroffen."
Reformen sollen Chinas System wieder effizient machen, aber nicht frei. Pekings Volkskongress bestätigte das, als er mit 2639 Jastimmen bei nur 160 Ablehnungen das in der Öffentlichkeit heftig umstrittene revidierte Strafverfahrensrecht annahm. Obwohl es die Rechte "normaler" Krimineller besser als jemals zuvor schützt, unter Folter oder Druck erpresste Geständnisse verbietet, den Zugang zu Anwälten sichert und noch mehr Überprüfungen vor einer endgültigen Verhängung der Todesstrafe setzt, legalisiert es erstmals Polizeiverordnungen im Umgang mit Bürgerrechtlern als festgeschriebenes Recht. Chinas Sicherheitsorgane können als mutmaßliche Terroristen oder Dissidenten verdächtigte Personen, die sie der Staatsgefährdung beschuldigen, festnehmen, ohne Richter und Anwälte zu fragen oder die Familien zu informieren. Und sie dürfen sie nach den neuen Paragrafen 58 und 73 bis zu sechs Monate in besonderen "Polizeianstalten" festhalten und verhören.
Diese weitreichenden gesetzlichen Vollmachten bringen China dem Polizeistaat einen Schritt näher - und haben im Internet eine Protestwelle ausgelöst. Viele Blogger nennen sie "Lex Ai Weiwei". Der Künstler war vergangenen April 81 Tage von den Behörden nach Polizeiverordnungen festgehalten worden. Er teilte das Schicksal mit Dutzenden Anwälten und Autoren, von denen die Behörden annahmen, dass sie in China Revolten nach Vorbild des Arabischen Frühlings anzetteln wollten.