Die Zeit nach dem Tsunami wird die Hamburger Japanologin Gabriele Vogt nie vergessen. Die Japaner zeigten große Nachbarschaftshilfe.
Hamburg. Freitag, 11. März 2011: großes Beben im Nordosten Japans. Auf meinem Weg zum Büro ruft mein Vater an: Er sei froh, dass ich nicht mehr in Japan wohne. So viel Sentimentalität? Ungewöhnlich für ihn. Überall Wasser sehe er im Fernsehen, sagt er. Überall Wasser.
Ich habe ein mulmiges Gefühl. Eine meiner Studentinnen hat mir aus Japan gemailt. Sie sei in Sicherheit. Gerade sei sie aus der Bibliothek der Waseda-Universität in Tokio evakuiert worden. Ich sehe Nachrichten via Internet. Schon bald strahlen alle großen japanischen Sender ihr Programm im Livestream aus, frei zugänglich für jeden. Immer wieder die gleichen Bilder: diese ungeheuere Flutwelle. Alles wird von ihr mitgerissen. Alles. Der Kommentator steht hörbar unter Schock.
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Der Studioleiter des staatlichen Fernsehsenders NHK für Nordostjapan, Takahashi Osamu, erzählt mir später, wie sein Team die Bilder für die unzähligen Wiederholungen editieren sollte. Alle Szenen, in denen man ertrinkende Menschen sah, sollten herausgeschnitten werden. Seine Stimme stockt bei der Erinnerung.
Ernstfall also. Der Fall, den jeder, der in Japan wohnt, verdrängt. Man trifft sich einmal im Jahr zur Erdbebenübung in der Nachbarschaft und einmal am Arbeitsplatz. Man stellt sicher, dass der Notfallrucksack zu Hause und im Büro stets griffbereit liegt. Dass man Wasser und Kekse darin regelmäßig austauscht. Dass man den Weg zum nächstgelegenen Evakuierungszentrum kennt.
Und auch, dass man den Fußweg vom Arbeitsplatz nach Hause kennt. Gerade das war bitter nötig an jenem Freitag in Tokio, als der Rhythmus der Stadt mit einem Male zum Erliegen kam. Die Züge, die Pulsadern der Metropole, wurden gestoppt. Millionen von Pendlern mussten sich zu Fuß auf den Weg machen an diesem Abend. Einige Stunden hatten sie teilweise zu laufen. Bis in die Vororte, aus denen sie jeden Morgen in rasender Geschwindigkeit mit unzähligen Zügen ins Herz der Stadt hineingepumpt werden.
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Auch der Mann meiner Freundin Aiko zählt zu ihnen. Etwa sieben Kilometer hat er vor sich an diesem Abend, vom zentralen Bezirk Chiyoda hinaus in den Westen der Stadt. Aiko dokumentiert für ihre Freunde auf Facebook jeden Kontakt, jeden Wegpunkt des Ehemanns. Sie harrt vor dem Fernseher aus zusammen mit dem kleinen Sohn, der gerade ein paar Monate alt ist. Die Strom- und Wasserversorgung droht zeitweise zusammenzubrechen. Das Mobilfunknetz ist löchrig. In den Supermärkten sind Lebensmittel schnell ausverkauft. In den frühen Morgenstunden endlich kommt Aikos Mann zu Hause an.
Auch ich habe teil an Aikos Anspannung, an jeder kleinen Nachricht, die sie verschickt. So wie viele meiner Freunde in Japan an diesem Tag. Der Wunsch danach, nicht alleine zu sein, ist groß, dort wie hier.
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Es sind Semesterferien, für viele unserer Hamburger Studierenden die Zeit, für ihre Recherchearbeiten Bibliotheken in Japan aufzusuchen. Außerdem ist ein halber Jahrgang des Bachelorstudiums im verpflichtenden Auslandssemester in Japan. Etwa die Hälfte von ihnen ist im Großraum Tokio unterwegs. Auch in Japan ist Ferien- und Reisezeit. War jemand in den Nordosten gereist? Drei von ihnen, das stellt sich ein paar Tage später endlich heraus. Alle in Gebieten noch nördlich der Flutwelle. Keiner in Gefahr.
Am Sonnabendmorgen scheint das Leben in Tokio weiterzulaufen. In gedämpftem Tempo zwar, aber doch halbwegs geregelt. Die Bahnen fahren wieder. Auch meine Studentin Lara fährt wieder los zur Bibliothek. Sie berichtet, dass auf den Bildschirmen überall in der Stadt die Bilder des Vortags und Namenslisten der Vermissten flimmern. Einige Stunden später sind die Bildschirme grau. Keine Nachrichten mehr. Ein Anruf ihrer Eltern: Sie solle Jod-Tabletten kaufen. Und auf dem schnellsten Weg ausreisen. Jetzt spricht auch die deutsche Botschaft in Tokio von Reise- und Sicherheitshinweisen. Schon bald entschließt sich die Lufthansa, den internationalen Flughafen von Tokio nicht mehr anzufliegen.
+++ Hamburger gedenken der Fukushima-Opfer +++
Tausende Menschen verlieren durch das Beben und die anschließende Flutwelle ihr Leben. Tausende werden bis heute vermisst.
Auch Japans sonst so exzellente Infrastruktur kommt in diesem März 2011 an ihre Grenzen, bricht teilweise zusammen. Viele Straßen sind schlichtweg verschwunden. Im Nordosten Japans können unzählige Dörfer von Hilfsfahrzeugen nicht erreicht werden. Das, worauf sich die Menschen verlassen können, ist Japans hoch organisierte Nachbarschaftshilfe. Die organisiert die ersten Notunterkünfte und Vermisstenlisten, führt Familien zusammen und kümmert sich um die vielen alleinstehenden Alten, die dort auf dem Land wohnen. Essen und Decken werden geteilt in diesen kalten Märztagen. Bald fällt noch einmal Schnee.
Währenddessen guckt die Welt auf Fukushima. In Deutschland ist der Name schnell zum Symbol für die Risiken der Kernenergie geworden - in Japan für das "Atomdorf", die enge Verstrickung von Politik, Wirtschaft und Ministerialbürokratie. Über Jahrzehnte hinweg war sie ein Garant für Japans effiziente Industriepolitik, zuletzt geriet diese Interessensverflechtung immer häufiger in Zusammenhang mit Korruption in die Schlagzeilen. Schließlich auch mit völliger Intransparenz. Was in diesen Tagen nach dem GAU von Fukushima auch für Tokio auf dem Spiel stand, wird erst nach und nach öffentlich gemacht.
Die Menschen in Japan sind heute enttäuscht von ihrer politischen Klasse, ebenso von der wirtschaftlichen Elite. Den Ministerialbürokraten hatte ohnehin niemand Besseres zugetraut. Die Bürger nehmen die Dinge jetzt selbst in die Hand.
+++ Japanische Gruppe trommelt in Buxtehude für Fukushima +++
Junge Ärzte, wie Yugo aus Tokio, haben damals ihren Job an den Nagel gehängt, um in Kesenuma, einer Kleinstadt im Nordosten, die Opfer des Bebens und der Flut zu betreuen. "Kokoro no kea nennt er das, Seelenpflege. Zusammen mit seinen Freunden hat er in Kesenuma ein medizinisches Notfallzentrum aufgebaut, und nicht nur das: Er organisiert für die, die in den Auffanglagern der Region geblieben sind, Dorffeste. Auch, um der Vereinsamung entgegenzuwirken in dieser Stadt, die nahezu komplett ausgelöscht worden ist, sagt Yugo.
Anlässlich des O-Bon-Festes zur Ahnenverehrung hat Yugo in Kesenuma dann zum Sommertanz geladen. Einen deutschen Weihnachtsmann hat er im Dezember organisiert. Und demnächst steht das Tulpenfest an. Die Blumen dafür werden eigens aus den Niederlanden gespendet. Ein Stück Normalität und auch etwas Besonderes für Kesenuma auf dem langen Weg des Wiederaufbaus.