Der polnische Präsident war kein Staatsmann, der in die Schubladen der westeuropäischen Politik passte. Er misstraute der EU.
Berlin. "Ich kannte ihn 30 Jahre. Wir waren oft gegensätzlicher Meinung. Nach seinem Tod sollte ich mein Gewissen prüfen, ob ich in meinen Kritiken nicht zu ungerecht war." Diese Worte Adam Michniks, des Chefredakteurs der liberalen Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" und ehemaligen antikommunistischen Bürgerrechtlers, geben treffend die Stimmung unter vielen polnischen Journalisten und politischen Beobachtern nach dem tragischen Tod von Lech Kaczynski wieder.
1. WIE DER ABSTURZ SICH EREIGNET HABEN SOLL
2. PORTRÄT LECH KACZYNSKI
3. KANZLERIN ANGELA MERKEL ZUM ABSTURZ
4. WELTWEITE TRAUER UM KACZYNSKI
Polens verunglückter Staatspräsident war kein Mensch, der in konventionelle Schubladen westeuropäischer Politik passte. Als melancholischer, schüchterner Mensch bevorzugte er Begegnungen im kleineren Kreis und weniger die großen Bühnen der Öffentlichkeit. Der kleine, runde, etwas bieder wirkende, scheue Hochschulprofessor war kein strahlender Held der modernen Medienwelt. Anstatt gelassen und souverän auf die Kritik der öffentlichen Meinung zu reagieren, konnte er oft seine Verletzung und seinen Unmut über Journalisten nicht verbergen. Ein großer Graben tat sich daher im Laufe der letzten Jahre zwischen ihm und den Medien auf, vergleichbar mit dem spannungsreichen Verhältnis zwischen Helmut Kohl und der schreibenden Zunft in der Bundesrepublik.
Ähnlich wie bei Kohl waren seine Schwächen ein beliebtes Thema der Satire, und so wie im Falle des Einheitskanzlers wünschten sich viele Bürger, vor allem Intellektuelle, einen eloquenteren, strahlenden Helden als Vertreter ihrer Nation - einen Salonlöwen mit sicherem Auftreten auf dem internationalen Parkett. Doch eine andere Ähnlichkeit mit Helmut Kohls politischer Laufbahn ist die wichtigste: Beide wurden unterschätzt. In entscheidenden politischen Wahlen hatten sie oft die Nase vorn, verstanden es, die Stimmungen im Volk für sich zu nutzen.
Unterschätzt wurde Lech Kaczynski zwar im Laufe seiner Amtszeit als Staatspräsident oft, doch der große Respekt vor seiner politischen Biografie war immer präsent. Der in Warschau geborene Jurist schloss sich bereits 1977 in Danzig, wo er damals mit seiner Familie lebte, der Freien Gewerkschaftsbewegung um Bogdan Borusewicz, dem heutigen Senatspräsidenten Polens, an. Lange vor den Streiks in den Ostsee-Werften im Sommer 1980 beteiligte sich Kaczynski unter erheblicher persönlicher Gefahr am Aufbau eines Bündnisses zwischen Intellektuellen und Arbeitern, aus dem die Freiheitsbewegung Solidarnosc hervorging. Mit seinem Bruder Jaroslaw kämpfte Kaczynski mit friedlichen Mitteln gegen das kommunistische Regime.
Eng verbunden fühlte sich Lech Kaczynski mit der katholischen Kirche. Und hier tritt ein weiteres Missverständnis in der Wahrnehmung seiner Person und Polens auf: Kaczynskis Religiosität und die der polnischen Freiheitsbewegung wurde oft als Ausdruck eines "rückständigen", nationalistischen Katholizismus interpretiert. Die katholische Kirche Polens bot nicht nur der Bürgerbewegung Schutz, sie setzte sich konsequent für den friedlichen Verlauf der politischen Veränderungen ein. Das gemeinsame Gebet wurde für Christen, Nichtchristen und Atheisten zu einer kollektiven Erfahrung, die Mut und Zuversicht schenkte.
Kaczynski wurde in der europäischen Presse oft als nationalistischer Politiker charakterisiert, manchmal sogar in die Jörg-Haider-Ecke gestellt. Eher treffender sind die Worte der Bundeskanzlerin, die ihn als "streitbaren Europäer" bezeichnet hat. Kaczynski war distanziert gegenüber dem EU-Raumschiff Brüssel, vor allem misstraute er der Fähigkeit der Deutschen und Franzosen zum Mannschaftsspiel, unterstellte den Deutschen oft pauschalisierend, die EU alleine als Mittel für die Durchsetzung eigener Großmachtambitionen einzusetzen.
Die mangelnde außenpolitische Erfahrung Kaczynskis, seine Scheu, seine Komplexe gegenüber den routinierten westeuropäischen Politprofis äußerte sich auch in seiner oberflächlichen Wahrnehmung der deutschen Politik. Oft konnte man den Eindruck gewinnen, als würde er Deutschland als Monolithen wahrnehmen, als würde er kein Gefühl entwickeln können für den politischen Pluralismus, für die innerdeutschen Auseinandersetzungen um europäische und historische Schlüsselfragen. Er nutze diesen Pluralismus nicht für seine Interessen. Er blieb gegenüber Deutschland passiv, versuchte selten, die politischen Eliten für seine Vorstellungen zu gewinnen.
Sein großes außenpolitisches Thema war die Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn Polens, die Westintegration der postsowjetischen Staaten Ukraine, Weißrussland und Georgien. Vor allem in der Unabhängigkeit dieser Staaten von Moskau sah er eine Garantie für die Sicherheit Polens. Kaczynski wollte die europäischen Werte, die Ideale der friedlichen Bürgerbewegungen von 1989 weiter nach Osten tragen. Nicht nationalistische Reflexe trieben ihn dabei, sondern die Sorge um den Bestand der demokratischen Kultur. In dieser Hinsicht war er ein überzeugter Europäer und ein Vertreter der demokratischen Kultur der Bürgerbewegungen, dieser besonderen Symbiose von Idealismus und Realismus.
Basil Kerski, deutsch-polnischer Journalist und Politikexperte, Chefredakteur des zweisprachigen "Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG", lebt in Berlin.