Schwächere Staaten haben Sozialprogramme über Schulden finanziert, statt wie die Deutschen an ihrer Wettbewerbsfähigkeit zu arbeiten.
Hamburg/Austin. Es ist ein bizarrer Streit. Da hat die französische Wirtschaftsministerin Christine Lagarde doch allen Ernstes gefordert, Deutschland solle seinen Exportmotor zugunsten einer stärkeren Binnennachfrage drosseln, da dies die Wettbewerbsfähigkeit anderer EU-Staaten gefährde. Deutschland habe in den letzten zehn Jahren "einen schrecklich guten Job gemacht", um seine Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, klagte Lagarde. Und der Experte Charles Dumas von der Londoner Marktanalysefirma Lombard Street Research sprach im "Daily Telegraph" von deutscher "Selbstgerechtigkeit". Die schwächeren europäischen Staaten könnten ihre Löhne nicht weiter senken, ohne katastrophale Schäden an ihren Wirtschaften anzurichten. Die Deutschen hätten das letzte Jahrzehnt die Nachfrage der anderen Staaten abgesaugt wie Läuse das Blut. Der Handelsüberschuss des von Deutschland beherrschten Nordens entspreche dem Chinas und der asiatischen Tigerstaaten zusammengenommen.
Die deutsche Kanzlerin nahm in ihrer Erwiderung auf derartige Vorwürfe kein Blatt vor den Mund und meinte im Bundestag, man werde sich bestimmt nicht nach dem richten, "der am langsamsten" sei. Deutschland werde seine Exportstärke gewiss nicht aufgeben.
Vor dem Hintergrund dieser EU-internen Auseinandersetzung hat der private amerikanische Geheimdienst Stratfor eine brisante Analyse geliefert. Stratfor, oft als "Schatten-CIA" etikettiert, liefert wirtschaftliche und politisch-strategische Analysen und Prognosen. Die Liste der Kunden ist streng geheim, aber bekannt ist immerhin, dass Stratfor weltweit Regierungsbehörden sowie Großkonzerne der "Fortune 500"-Liste berät.
Stratfors Vizepräsident der Analyseabteilung, Peter Zeihan, der häufig als Experte in den großen amerikanischen Medien erscheint, hat nun eine Analyse zum Thema Deutschland und Europa vorgelegt, die dem Abendblatt vorliegt. Sie gipfelt in der These, dass ausgerechnet jene europäischen Strukturen, die einst geschaffen worden waren, um Deutschland zu beherrschen, nun immer stärker dafür sorgen, dass Deutschland Europa dominiert.
Die europäische Geschichte sei eine Chronik der Versuche der anderen Staaten, Deutschlands Stärke einzudämmen - vor allem seit 1871, also seit der Gründung des Zweiten Deutschen Reiches. Hintergrund sei die für Deutschland prekäre geostrategische Lage zwischen den kontinentaleuropäischen Großmächten Frankreich und Russland, die zu vielen Kriegen geführt habe. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe man Deutschland bewusst in ein System kollektiver Sicherheit und wirtschaftlich-finanzieller Vernetzung eingebunden, um seiner Stärke Zügel anzulegen - militärisch in der Nato, politisch-wirtschaftlich in der EU. Auch der Euro diene diesem Zweck.
Doch die gravierenden Unterschiede innerhalb der EU - vor allem bezüglich Arbeits- und Ausgabendisziplin, Lohnkosten und Produktqualität - führten zu einer immer stärkeren Dominanz Deutschland innerhalb des europäischen Systems. Staaten wie Griechenland, Spanien, Portugal und Italien hätten sich an den Vorteilen des Euro "fett und faul" gelabt und Sozialprogramme über Schulden finanziert, anstatt - wie die Deutschen es getan hätten - an ihrer Wettbewerbsfähigkeit zu arbeiten. Die Äußerung eines politischen Schwergewichts wie Wolfgang Schäuble, der kürzlich damit drohte, Länder, die ihre Finanzen nicht unter Kontrolle bekämen, aus der Eurozone werfen zu wollen, seien nicht mehr die Äußerungen eines Staates, der in Schach gehalten wird - sondern die selbstbewussten Äußerungen des entscheidenden europäischen Staates.
Es sehe ganz so aus, als ziehe Deutschland in Betracht, Europa in seinem Sinne umzugestalten, meint Chefanalyst Zeihan. Auf heimlichem Wege erreiche Deutschland nun, was es in den vergangenen tausend Jahren des innereuropäischen Ringens nicht erreicht habe - und die Folgen seien gar nicht zu überschätzen. Denn sie seien nicht nur auf die Euro-Zone beschränkt, sondern erstreckten sich auf alle vom Euro beeinflussten Staaten Europas.
Der Stratfor-Experte legt dar, dass Deutschland den anderen europäischen Staaten durch niedrige Löhne und hohe Produktqualität davongelaufen sei - sämtliche Euro-Partner stellten fest, dass sie vergleichsweise immer weniger leistungsfähig seien. So habe das Land bereits einen 25-prozentigen Kostenvorteil gegenüber den Mittelmeerstaaten ("Club Med") erzielt. "Kurz gefasst: Die europäischen Staaten leihen sich Geld (vor allem von Deutschland), um Güter zu importieren (vor allem aus Deutschland), da ihre eigenen Arbeiter bei den Preisen nicht mehr konkurrenzfähig sind (vor allem wegen Deutschland)", heißt es in der Stratfor-Analyse. Der Euro verwandle sich von einer Zwangsjacke in ein Sprungbrett für Deutschland. Das Kernland Europas beginne nun, seine nationalen Interessen zu formulieren und umzusetzen. Das sei aber nicht mehr jene Union, der die anderen Staaten einmal beigetreten seien.
Stratfor sagt voraus, der Euro werde langfristig nicht funktionieren, da im selben Marktsystem zum Beispiel die "ultraeffizienten" deutschen Arbeiter gegen die "ultraineffizienten" griechischen Arbeiter anträten. Die europäische Währung könne letztlich am Erfolg Deutschlands zerbrechen.