Hamburg. Hamburger Abendblatt:

Welche Ziele verfolgt Israel mit dem Krieg im Gazastreifen?

Peter Scholl-Latour:

Ich weiß es nicht. Sollten israelische Streitkräfte den Gazastreifen zurückerobern, würde sich Israel einen Partisanenkrieg aufbürden. Genau das ist ja der Grund, aus dem Israel Gaza geräumt hat.



Abendblatt:

Trotzdem hat die Hamas Israel auch nach der Räumung immer wieder mit Kassam-Raketen angegriffen.

Scholl-Latour:

Die Israelis hatten offenbar gedacht, dass die Räumung des Gazastreifens bei den Palästinensern als Reaktion eine größere Bereitschaft zum Kompromiss zur Folge haben würde. Von der palästinensischen Seite wird aber jede Konzession als Zeichen der Schwäche gedeutet. Also ist die Situation ziemlich verfahren. Die Hamas gilt ja auch bei uns als verbrecherische Organisation. Da sie aber frei gewählt ist, hätte Israel mit der Hamas Gespräche aufnehmen müssen. Der inzwischen getötete Hamas-Chef Jassin hatte gesagt, dass die Hamas zu einem unbegrenzten Waffenstillstand bereit ist, auf der Basis der Grenzen von 1967. Das war für Israel natürlich inakzeptabel, inzwischen leben 250 000 Israelis auf der Westbank und haben dort ihre Siedlungen errichtet.



Abendblatt:

Im Westjordanland herrscht die gemäßigte Fatah von Mahmud Abbas. Wie viel Einfluss hat der Palästinenserpräsident?

Scholl-Latour:

Er wird von den meisten Palästinensern als Kollaborateur betrachtet. Abgesehen davon hat Israel auch mit Abbas nicht ernsthaft verhandelt. Der ehemalige Palästinenserpräsident Arafat hatte dagegen eine Autorität, die ihm viele nicht zugetraut haben. Und wer hätte gedacht, dass man Arafat einmal nachtrauern würde. Sollten heute freie Wahlen stattfinden, würde die Hamas auch im Westjordanland die Mehrheit erhalten.



Abendblatt:

Hat die Hamas überhaupt Interesse an der Gründung eines Palästinenserstaates?

Scholl-Latour:

Das kommt darauf an, wie ein Palästinenserstaat aussieht. Wo wollen Sie denn einen lebensfähigen und zusammenhängenden Palästinenserstaat mit offenen Grenzen auch nach Jordanien hin gründen? Man muss auch sehen, dass dann auch Israel existenziell bedroht wäre. Ich bin verwundert, dass immer noch vom Friedensprozess, von Road Map und Zwei-Staaten-Bildung geredet wird. Das funktioniert nicht, das hat die Vergangenheit doch gezeigt. Im Moment ist die Gründung von zwei Staaten völlig illusorisch. Und in den acht Jahren der Bush-Regierung ist kein Versuch unternommen worden, einer Lösung näher zu kommen. Was wird Präsident Obama nach seinem Amtsantritt machen? Ich beneide ihn jedenfalls nicht um diese Aufgabe.



Abendblatt:

Besteht die Gefahr, dass es zu einer Somalisierung der Palästinensergebiete kommt?

Scholl-Latour:

Die ist ja schon weitgehend im Gange. Die Öffentlichkeit muss sich aber daran gewöhnen, dass es Konflikte in der Welt gibt - und zwar außer Nahost eine ganze Menge -, die unlösbar sind.



Abendblatt:

Schickt sich Israel an, den Fehler des Libanonkriegs im Gazastreifen zu wiederholen?

Scholl-Latour:

Im Libanon war die Situation eine ganz andere. Im Libanon ist die israelische Armee auf die Hisbollah gestoßen. Und die Hisbollah ist wahrscheinlich die stärkste Kampfkraft, die es im arabischen Raum gibt. Die Israelis sind mit ihrer Offensive dort ja auch gescheitert. Israel könnte Gaza im Nu besetzen. Die Palästinenser sind nicht so gut bewaffnet und so organisiert wie die Hisbollah. Und sie sind nicht solche Kämpfer wie die schiitischen Hisbollah-Kämpfer.



Abendblatt:

Halten Sie eine Verbrüderung von Hisbollah und Hamas für möglich?

Scholl-Latour:

Das unterstellt man immer. Sie müssen bedenken, dass die Hisbollah eine schiitische Organisation und die Hamas eine sunnitische Organisation ist. Das sind zwei Glaubenszweige, die zutiefst verfeindet sind.



Abendblatt:

Dennoch kommt es in der arabischen Welt zu Solidaritätsbekundungen mit der Hamas.

Scholl-Latour:

Die Rolle der arabischen Liga in dem Konflikt ist keine sehr glanzvolle gewesen. 70 Prozent der Bevölkerung Jordaniens sind palästinensischen Ursprungs. Wenn da ein paar Leute auf die Straße gehen, dann ist das wirklich nicht viel. Hinzu kommt, dass es mit der Einigkeit der arabischen Welt nicht weit her ist. Ägypten hat Frieden mit Israel geschlossen, Jordanien hat Frieden mit Israel geschlossen. Syrien würde, wenn der Golan zurückgegeben würde, ebenfalls Frieden mit Israel schließen.



Abendblatt:

Welche Rolle spielt bei der militärischen Eskalation in Gaza der israelische Wahlkampf?

Scholl-Latour:

Bei dem Gewimmel von Parteien schaut man kaum noch durch. Nach meiner persönlichen Meinung wäre es nun am besten, wenn nicht Ehud Olmert an der Spitze von Israel steht, der auch noch in persönliche Korruptionsaffären verwickelt ist, sondern ein richtiger Hardliner. Etwa Benjamin Netanjahu. Sollte es doch irgendwann zu einem Abkommen kommen, kann nur ein Hardliner Konzessionen durchsetzen. Den Frieden mit Ägypten schließen und den Sinai aufgeben - das konnte nur Menachem Begin, weil er als Hardliner bekannt war.