Die meisten Israelis halten die Militäraktion für nötig, doch gewünscht war sie nie. Sie verändert das Land: Selbst im lebenshungrigen Tel Aviv regiert nun die Stille.

Tel Aviv. "Eine Reaktion war nötig." So schlicht dieser Satz klingt, so deutlich macht er, was die meisten Israelis über den Krieg zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen denken. Die größte israelische Tageszeitung "Yediot Achronot" titelte gestern, am Tag nach dem Beginn des israelischen Militärschlags: "Eine halbe Million Israelis unter Beschuss". Das Titelbild zeigt eine Straße in Rafach, eine Stadt im Gazastreifen. Auf dem Foto ist das Feuer einer Explosion zu sehen, die Straße ist aufgerissen, palästinensische Rettungskräfte rufen um Hilfe. Darunter zeigt ein anderes Foto den Schrecken auf israelischer Seite. Eine Frau aus dem Ort Netivot, der seit Wochen immer wieder von Raketen aus dem Gazastreifen beschossen wurde, tröstet darauf ein weinendes Kind.

Und wenig deutet darauf hin, dass die Bilder bald schon Vergangenheit sind. Verteidigungsminister Ehud Barak lehnte am Sonntag Forderungen nach einem Waffenstillstand mit der Hamas ab. "Es gibt Zeiten der Ruhe und Zeiten des Kampfes - jetzt ist die Zeit zum Kämpfen gekommen." Ebenso wenig könnten die USA Waffenruhe mit al-Qaida schließen oder hätte Deutschland sich dem Terror der RAF beugen können, sagte er.

Inzwischen starben mindestens 285 Palästinenser, etwa 180 davon sollen der Hamas angehören. Auf palästinensischer Seite spricht man vor allem von zivilen Opfern wie Kindern und Frauen. Auch ein Israeli starb gestern durch eine Rakete der Hamas. Vorangegangen waren dem Krieg wochenlange Provokationen der Hamas und Raketenbeschuss auf israelische Orte. Nach Armeeangaben sind seit dem 19. Dezember, der Tag, an dem die ohnehin brüchige Waffenruhe mit den zwölf militanten Palästinensergruppen im Gazastreifen abgelaufen war, mehr als 170 Raketen und Mörsergranaten auf Israel abgefeuert worden.

Die Bilder von diesem Krieg liefen am Sonnabend auf den israelischen Nachrichtensendern ohne Unterbrechung. Auch in Tel Aviv, der Stadt, die als unpolitisch gilt, die ihren Bewohnern ein Leben wie an der Küste Kaliforniens bietet, gab es kein anderes Thema. Man spricht in Israel von Tel Aviv als dem "Staat Tel Aviv", weil hier die Menschen auch an solchen Tagen in Cafes sitzen und ein Leben führen, das scheinbar einfach weitergeht. Aber am Tag eins des israelischen Bombardements liefen hier an jedem Kiosk und Cafe die Fernseher, und es war nicht wie sonst ein Fußballspiel der israelischen Liga, sondern Nachrichten aus dem Gazastreifen und Bilder aus den israelischen Grenzorten.

Auch wenn am Sonnabend Schabbat war, der Ruhe- und Feiertag der Juden, und dieser Tag in Tel Aviv sonst keine große Rolle spielt, war es auch hier ruhiger als sonst: die Straßen nahezu leer; im Hafen, einer Marina mit Restaurants und Geschäften, nicht viel los. Sonst treffen sich hier am Sonnabend die Familien und alle anderen aus den umliegenden Orten, die die Ruhe des Schabbats nicht halten wollen. Dieses Mal gab es keine Schlangen vor den Lokalen, waren die Geschäfte kaum gefüllt, auch wenn Schuhe und Kleider um 50 Prozent reduziert waren.

Ido Porat, Jugend-Vorsitzender der sozialliberalen Partei Meretz, feierte mit seiner Familie Schabbat. Erst am Abend traf er sich mit seinen Freunden und Parteimitgliedern, um den Ausbruch des Krieges zu besprechen. Am Tag danach sagt auch er: "Eine Reaktion war nötig." Israel habe immer wieder gewarnt und abgewartet, in Richtung Hamas gesagt, dass der Raketenbeschuss enden müsse. "Es geht nicht, dass die Menschen in den Grenzorten sich verstecken müssen und um ihr Leben fürchten." Die Frage sei aber, ob es hilft.

Und das ist es auch, was viele andere Israelis beschäftigt. Auf der einen Seite stehe die Notwendigkeit, sich zu wehren, auf der anderen Seite die hohe Zahl der Opfer. Erst in der vergangenen Woche hat die Tageszeitung "Haaretz" eine Studie veröffentlicht, die besagt, dass 46 Prozent der israelischen Bevölkerung gegen eine militärische Besatzung des Gazastreifens sind. "Blut und Krieg sind nie gut, aber was sollen wir machen?" Ido Porat hofft, dass die Politiker, sobald es geht, Gespräche mit der Hamas führen. Auf die Frage, ob dieser Tag etwas Besonderes für ihn war, sagt der 29-Jährige: "Es war ein normaler Tag." Auch wenn diese israelische Militäraktion im Gazastreifen als die schwerste seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 gilt.

Vielen Israelis ist der Zwiespalt zwischen Gewalt und Notwendigkeit anzumerken. Einerseits sprechen die Bilder aus dem Gazastreifen für sich, andererseits steht der vorangegangene Raketenbeschuss, die aufgekündigte Waffenruhe der Hamas. Wieder Krieg, wieder Gewalt, aber was soll man tun? Die Suche nach politischen Lösungen dauert vielen inzwischen zu lange, und die Politiker bleiben in ihren Bemühungen zu erfolglos. Frustration und Resignation sind die beherrschenden Gefühle. "Es ist verrückt", sagt eine Zeitungsverkäuferin, die ein Geschäft in Tel Avivs Haupteinkaufsstraße Dizengoff betreibt. Auch wenn es sehr schlimm sei, was dort passiere, die Hamas sei selber schuld. "Mit den Leuten dort habe ich Mitleid, aber nicht mit der Hamas." Ob sie jetzt Angst habe vor Anschlägen in Tel Aviv? "Nein, das nicht." Erstens sei Tel Aviv zu weit entfernt für die Raketen der Hamas, die maximal eine Strecke von 40 Kilometern überbrücken könnten. Zweitens sei sie Anschläge gewöhnt. Davor habe sie keine Angst mehr. Jeder in Tel Aviv kennt jemanden, der bei einem Anschlag gestorben oder verletzt worden ist. Diese Tatsache hat viele taub und in gewisser Weise professionell im Umgang mit Gewalt und Angst gemacht.

Doch mit dem Ausmaß der Opfer habe man nicht gerechnet. Auch deswegen gab es am Abend des ersten Kriegstages mehrere Demonstrationen in israelischen Städten. In Tel Aviv gingen 1500 Leute auf die Straße. Sie marschierten von der Innenstadt zum Verteidigungsministerium und forderten ein Ende des Krieges. Haggai Matar, ein Journalist, der dabei war, sagte: "Viele Demonstranten waren erschrocken über die hohe Zahl der Toten und halten die Reaktion des Militärs für unproportional." Sie wollen weiter gegen den Krieg kämpfen, von dem Premier Ehud Olmert sagt, er werde nicht so schnell zu Ende sein.

Und Tel Aviv? Am Sonntagabend war es zwar immer noch ruhiger als sonst, die Lokale aber gut besucht und wieder etwas von dem üblichen "Das Leben geht weiter" zu spüren.