Hundefleisch muss von der Speisenkarte, Blumenkästen schmücken sogar die Autobahn. Doch die Herzlichkeit, die ist nicht verordnet. Ein Streifzug durch Peking.

Peking. Wer oder was um Himmels willen ist Me-Ke-Le? Die junge Verkäuferin im winzigen Krämerladen an der Xidan Dajie bricht bei Nennung des Herkunftslandes Germany in lautstarke Begeisterungsstürme aus. "Me-Ke-Le!", ruft sie immer wieder. "Me-Ke-Le." Nach minutenlangem Radebrechen, an dem sich immer mehr Kundschaft vehement beteiligt, herrscht endlich Klarheit: Gemeint ist Angela Merkel. Die Kanzlerin steht bei Chinesen hoch im Kurs.

Ebenso wie Ball-All-Aki, Ka-A-Ann und Qui-Oy-Thio - Ballack, Kahn und Goethe. Das war's aber meist auch schon. Andere meinen, in Deutschland werde Französisch gesprochen, außer tollen Autos gebe es jede Menge Bier, und Berlin liege in den USA. Andererseits: Wer von uns kennt schon Harbin, Yan ni Wus Heimatstadt im Nordosten Chinas, zwölf Zugstunden von Peking entfernt - und dreimal so groß wie Hamburg?

Yan ni Wu hat sich wie alle freiwilligen Helfer während der Olympischen Spiele einen Zweitnamen zugelegt: Jenny. Damit sich die Langnasen nicht die Zunge brechen. Wie Zehntausende ihrer Kollegen ist Jenny höflich, hilfsbereit, herzlich und bestens geschult. In einem Auswahlverfahren ihrer Universität musste die Englischstudentin wochenlang Tests bestehen, bis sich die 19-jährige des Jobs geeignet und würdig erwies. Beseelt von Pflichtgefühl und Stolz freut sie sich nun inbrünstig auf internationale Kontakte als kleine Botschafterin der großen Volksrepublik. Enorme Vorfreude auf die Olympischen Spiele in einer Woche ist überall zu spüren.

Jahrelange kraftraubende, exorbitant teure Vorbereitungen laufen auf ein gigantisches Spektakel zu. Erklärtes Ziel: China ist wer! Binnen weniger Jahre vom Dritte-Welt-Problemgebiet zur Wirtschaftsmacht mutiert, will man es nun allen zeigen. Peking ist Prestigeobjekt. Folglich ist Kritik unbegreiflich, und es fällt auch schwer, auf den ersten Blick Ansatzpunkte zu finden. Wer kann schon in die Büros der Geheimpolizei und in die Haftanstalten für politisch Andersdenkende blicken?

Die Stadt mit ihren 17 Millionen Einwohnern hat sich nach allen Regeln der Baukunst herausgeputzt. Jede erdenkliche Vorkehrung wurde getroffen, um Land und Leute in Szene zu setzen. Das beginnt beim futuristisch anmutenden International Capital Airport, führt über achtspurige Schnellstraßen mit Brückenlabyrinthen bis in die kuscheligen Hutongs der Altstadt, einem kleinen Rest traditioneller Lebensweise inmitten gewaltiger Wolkenkratzer-Hochburgen. Großflächige Plakate ("Eine Welt, ein Traum!"), Fahnenmeere und Blumenkästen selbst an den Autobahnen weisen den Weg.

Dort, in den Hutongs, läuft das Pekinger Leben so, wie es sich der Europäer vorstellt: Bunter und turbulenter geht's nimmer. Alte Männer mit schmuddeligen Unterhemden transportieren Kleiderberge und Möbel auf Sackkarren, andere sind in Brettspiele vertieft, die meisten klönen. Frauen fächern sich Luft zu, Kinder spielen Fußball, Transistorradios dudeln, Fleischspieße bruzzeln auf dem Grill. Fast jeder Erwachsene handelt mit irgendwas. Und viele Familien wohnen sogar in ihren winzigen Ladengeschäften.

In der Nachbarschaft, nahe der neuen U-Bahn-Station Bei Xin Qiao, reiht sich ein Restaurant an das andere. Hunderte sind es, am Abend allesamt gut gefüllt. Rund 25 Euro kostet ein opulentes Mahl zu zweit. Für das Gros der Pekinger ein Vermögen, für die neue, mehr als eine Million Einwohner umfassende Oberschicht kein Thema. Nur draußen speisen geht nicht. Im Rahmen einiger für uns erstaunlicher Regierungsbeschlüsse wurde dieses Vergnügen als zu wenig ansehnlich für das Gesamtbild, weil angeblich chaotisch eingestuft. Auch sollen Ladenbesitzer ihre Warenstapel derzeit nicht vor den Geschäften auftürmen, Taxifahrer nicht aus dem Fenster spucken, Restaurants nur mäßig mit Knoblauch und Glutamat kochen, überall Blumenschmuck angebracht und für Plastiktüten ein Yuan (10 Cent) verlangt werden. Den einschlägigen Lokalen hat man "angeraten", bis Ende August kein Hunde- oder Schlangenfleisch zu servieren.

In allen Hausfluren wurden Broschüren mit geradezu niedlichem Inhalt ausgelegt. Das Lesen fällt schwer, die Zeichnungen jedoch sind gut verständlich. Dusche dich täglich, putze die Zähne, rülpse nicht auf der Straße, lächle entgegenkommend, laufe nicht mit nacktem Oberkörper durch die Gegend, kleide dich als Frau züchtig!

Das Schönste an Peking indes lässt sich nicht befehlen. Temperament, herzliche Gastfreundschaft, Lebenslust und ansteckender Frohsinn sind von morgens bis abends zu spüren, zu erleben, zu genießen. Gepaart mit bisweilen kindlicher Begeisterungsbereitschaft ("Me-Ke-Le!") und ausgeprägter Neugier. Ungeniertes Angaffen pfundiger Bleichgesichter, verbunden mit offenen Mündern sowie lautstarkem Palaver, gehört zur Tagesordnung. Wird das sichtliche Interesse mit einem Lächeln und dem Gruß "Ni hao!" (Hallo!) quittiert, besteht die Antwort immer in freudigen Rufen. Gefolgt von abenteuerlichen Gesprächen. Weil man wechselseitig kein Wort versteht, sich aber dennoch verständigt. Irgendwie. Muffeligkeit? Keine Spur!

Zwei Straßen weiter, abseits einer uralten Tempelanlage mit rot lackierten Dächern, bescheren endlose Kolonnen westlicher Luxusautos und japanischer Mittelklassewagen, zumeist mit Olympia-Flagge an der Frontscheibe, einen der Kontraste, die Peking so spannend macht. Auch wenn Privatfahrzeuge je nach Endziffer des Nummerschildes nur noch an bestimmten Tagen fahren dürfen und Lkw ganz aus der Metropole verbannt wurden, pflegt es sich mächtig zu stauen. Zumal die linke Fahrspur meist als "Olympic Lane" eingerichtet ist. Damit Staatsgäste, Parteigrößen und IOC-Fürsten rasch gen Sportpark gelangen.

Pei, jener Taxifahrer, der zur Begrüßung fröhlich "Beybye" ruft, sonst aber kein englisches Wort versteht, rast wie ein Wahnsinniger durch den Verkehr, konstant hupend und laut singend. Wie jedes der 67 000 Taxis in Peking ist auch seines frisch zweifarbig lackiert, das Taxameter läuft vorschriftsmäßig (mit Quittung!), und die Sitze sind mit weißblauem Stoff überzogen. Ein Fingernagel seiner rechten Hand ist zwei Zentimeter lang. Sichtbares Zeichen dafür, dass Pei es geschafft hat: Er muss nicht mehr körperlich hart schuften.

Ein ähnliches Statussymbol bei Chinesinnen ist eine möglichst bleiche Haut. Viele Frauen spazieren mit Sonnenschirmen über die Bürgersteige. Was verblüfft, da die Sonne seit Tagen - trotz leicht bedeckten Himmels - nicht zu sehen ist. Eine Wand aus Sommerdunst und Smog erzeugt nebulöse Verhältnisse und Weitsicht bestenfalls ein paar Hundert Meter weit. Das trübt die Stimmung. Angeblich jedoch sollen Verkehrsberuhigung und Stilllegung von Fabriken und Kraftwerken bis zum Start der Spiele Wirkung zeigen. Notfalls ist geplant, Raketen mit Blei-Iod-Ionen gen Himmel zu jagen, um Wasser- und Rußpartikel zu verbinden. Kontrolliertes Abregnen soll die Folge sein.

Über den Platz des Himmlischen Friedens und eine kilometerlange Einkaufsstraße mit Hochhäusern und Nobelshop neben Edelboutique, Kinos, Fast-Food-Restaurant und Krimskramsläden braust Pei weiter Richtung Olympiastadion, dem "Vogelnest".

Militär ist innerstädtisch ganz bewusst nicht präsent, Polizei in Uniform nur vereinzelt. Dafür umso mehr Damen mit Kostüm und Herren in schwarzen Anzügen, ausgestattet mit Funkgeräten und Metallsonden. Passieren darf nur, wer einen gelben Spezialausweis vorweist. Die Sicherheitsvorkehrungen sind immens, letztlich jedoch nicht viel umfangreicher als bei früheren Spielen.

Taxifahrer Pei stoppt an einem Posten, kassiert 210 Yuan (2 Euro) für die halbstündige Kamikazetour, sagt irgendwas Nettes, liest neue Fahrgäste auf und saust davon. Der Blick auf Olympia- und Schwimmstadion, den Park und die Wolkenkratzer-Kulisse ist beeindruckend. Optisch stark gemacht haben sie das.

Eine Helferin in blau gemustertem Shirt eilt herbei: "Ni hao, Sir, may I help you?" Als Gastgeschenk überreicht sie Miniaturfiguren der fünf olympischen Maskottchen, so etwas Ähnliches wie Teletubbys. In den Farben der olympischen Ringe und somit der Erdteile symbolisieren die putzigen Monster vier Tierarten sowie Olympias Flamme. Ihre Namen sind Beibei, Jingjing, Huanhuan, Yingying und Nini; aneinandergereiht ergeben die Silben den Satz "Bei Jing Huan Ying Ni". Willkommen in Peking.