“Er hat einfach diese Gabe!“ Amerikanische Beobachter sind begeistert von ihrem Krisen-Präsidenten Obama. Er findet die richtigen Worte und legt ein gigantisches Programm zur Renovierung des ganzen Landes vor: Haushaltsdefizit halbieren, einen staatlichen Fonds zur Kreditvergabe gründen, die US-Autoindustrie retten, mehr Klimaschutz, Krankenversicherung für alle, und den Krebs will er auch noch besiegen. Bilder von den amerikanischen Präsidenten.
Washington. Einmal im Jahr darf der US-Präsident vor dem Kongress reden. "Lage der Nation" ist nur der ungelenke deutsche Begriff für das gemeißelte amerikanische Idiom "State of the Union". Und in der größten Wirtschaftskrise, die "God’s own country" noch tiefer betrifft als die Große Depression in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts, braucht es Glaubensbekenntnisse. Große Worte mit jahrzehntelangem Nachhall. Und für diese Lage ist Barack Obama der geborene Redner.
Obama meisterte das Zeremoniell mit einer Sicherheit, als habe er langjährige Übung darin. Der majestätische Einzug in den Plenarsaal des Kapitols, die Entgegennahme der Ehrbezeugungen, der exponierte Auftritt vor den Augen der Nation: Obama zelebrierte seine Premiere als Redner vor dem US-Kongress.
Was Obama der Nation zu sagen hatte, war an Kühnheit kaum zu überbieten. Der Präsident will die derzeitige Krise für eine Rundumerneuerung seines Landes nutzen.
Der Präsident stand unter Druck, seine Berater hatten die Rede vorab als die wichtigste seiner jungen Amtszeit angekündigt. Ihr Ziel war es, einen Stimmungswandel einzuleiten. Obama sollte der verzagten Nation jene Zuversicht zurückgeben, ohne die keine wirtschaftliche Erholung möglich ist.
Gleich zu Beginn gab er den Ton vor: "Ich will, dass jeder Amerikaner heute Abend eines weiß", setzte er an. "Wir werden wiederaufbauen, wir werden uns erholen, und die USA werden stärker daraus hervorgehen als zuvor." Der Präsident als Mutmacher in Zeiten der Krise Obama stürmt vor, das Land soll folgen.
Die Rede hatte Obama vor ein Dilemma gestellt: Aufgesetzter Optimismus hätte ihn weltfremd wirken lassen. Schonungsloser Pessimismus aber hätte nur jenen Verlust an Vertrauen in Staat und Wirtschaft vertieft, der selbst eine der Ursachen für die Krise ist.
Der Präsident meistert die Herausforderung, indem er um Vertrauen wirbt, die Vision einer besseren Zukunft entwirft und seine Appelle mit einer Vielzahl an ambitionierten Initiativen verbindet, an denen er sich wird messen lassen müssen.
Der Präsident will das dramatische Haushaltsdefizit halbieren, einen staatlichen Fonds zur Kreditvergabe an Verbraucher und Kleinunternehmer gründen, die angeschlagene US-Autoindustrie retten und ein Gesetz zur Regulierung der Finanzmärkte erlassen. Er will außerdem in den USA ein markgestütztes System des Emissionshandels zum Klimaschutz etablieren, bis nächstes Jahr allen US-Bürgern den Zugang zu einer Krankenversicherung öffnen und in den kommenden drei Jahren die Produktion erneuerbarer Energien verdoppeln.
Jede dieser Initiativen stellt allein für sich genommen ein Großvorhaben dar, das mit politischen Traditionen bricht und das Verhältnis des Staats zu Wirtschaft und Gesellschaft neu austarieren soll. Obamas Botschaft lautet in Kurzform: Große Krisen erfordern große Ambitionen. Er sagt sogar zu, in absehbarer Zeit ein Heilmittel gegen Krebs zu finden, und er findet Zeit für einen Appell an Schulabbrecher, über ihre gesellschaftliche Verantwortung nachzudenken.
"Die Stunde der Wahrheit ist gekommen", ruft Obama. "Jetzt ist der Moment, an dem wir unsere Zukunft in die Hand nehmen müssen." Obamas Worte richten sich in erster Linie an jene Mehrheit der Amerikaner, die Umfragen zufolge Angst vor der Zukunft haben.
Ihnen erklärt der Präsident in den 52 Minuten seiner Rede geduldig, warum die Regierung noch viele Milliarden mehr in die Banken pumpen muss, um einen Kollaps der gesamten Wirtschaft abzuwenden. "Ich weiß, wie unpopulär es ist, als Helfer der Banken aufzutreten", sagt er. "Wir wollen aber nicht den Banken helfen, sondern den Menschen."
Von der Rednertribüne im Saal des Repräsentantenhauses kann Obama beobachten, wie sich seine Demokraten 30-mal zu stehenden Ovationen erheben. Die Republikaner bleiben oftmals demonstrativ sitzen.
Nach ersten Umfragen unter Wählern ist die Rede ein voller Erfolg für Obama. In einer Blitzumfrage für CNN bewerten 92 Prozent die Ansprache positiv. "Dies war die beste Budget-Rede, die ich je gehört habe", resümiert "Newsweek"-Chefkorrespondent Howard Fineman. "Dieser Mann hat einfach die Gabe, unter schwierigen Umständen viel Zuversicht zu vermitteln."