In einer syrischen Gefängniszelle findet ein CNN-Kamerateam einen verstörten Gefangenen. Ist der vielleicht gar kein Opfer des Regimes?
Es sind berührende Bilder, die „CNN“ vor etwas mehr als einer Woche in einem Bericht aus Syrien zeigt. In einem gerade von den Rebellen befreiten Foltergefängnis in Damaskus zieht ein Kamerateam der CNN-Korrespondentin Clarissa Ward durch das verlassene Zellenlabyrinth, als sie auf eine verschlossene Tür stoßen.
Ein Angehöriger der Rebellen-Miliz schießt das Schloss auf und die Journalistin betritt eine geräumige Zelle, in deren Ecke ein Bündel Decken liegt. Eigentlich war das Gefängnis des Geheimdienstes der syrischen Luftwaffe seit dem Sturz des Machthabers Baschar al-Assads geräumt worden, doch unter der Decke verbirgt sich zur Überraschung der Anwesenden ein Gefangener.
Scheinbar verwirrt, klammert er sich am Arm der Reporterin fest und trinkt gierig aus einer ihm angebotenen Wasserflasche. Ward begleitet ihn in den Außenbereich des Gefängnisses, wo der Befreite sich gerührt vom Anblick des Himmels zeigt, den er ewig nicht gesehen haben will. Jetzt gibt es Kritik an dem Beitrag. Denn der Gefangene soll gar kein Opfer des Assad-Regimes sein.
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CNN-Bericht: „Gefangener“ soll eigentlich Geheimdienstoffizier sein
Wie „CNN“ selbst mittlerweile berichtet, sei der Mann gar kein normaler Zivilist. Vielmehr handele es sich bei ihm um einen Geheimdienstoffizier, der selbst Teil des Systems gewesen sein soll. Im Beitrag bezeichnet er sich als Adel Ghurbal, der aus der Stadt Homs im Zentrum Syriens komme.
"Syria is free."
— CNN International PR (@cnnipr) December 11, 2024
Extraordinary moment as @clarissaward and her team witness a Syrian prisoner freed from a secret prison in Damascus.
Left alone for days without food, water or light, the man was unaware Bashar al-Assad's regime had fallen. pic.twitter.com/ZAnGiBlLON
Für drei Monate habe man ihn in einer Zelle festgehalten, wobei das schon sein drittes Gefängnis sei. Vom Sturz des Assad-Regimes wusste er nichts. Doch sein wahrer Name lautet wohl Salama Mohammad Salama. Er arbeitete laut der Richtigstellung von „CNN“ als Leutnant des Geheimdienstes der Luftwaffe für Assad. Die syrische Fact-checking-Plattform Verify-Sy hatte die falsche Identität zuerst ermittelt.
„CNN“ soll ein Foto vorliegen, die die wahre Identität zu bestätigen scheint: Darauf ist Salama in Uniform in einem Regierungsbüro zu sehen. Eine Gesichtserkennungs-Software habe eine 99-prozentige Übereinstimmung zwischen dem Mann in dem Foto und dem im Gefängnis festgestellt.
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Geheimdienstoffizier erpresste wohl Menschen an Kontrollpunkten
In weiteren Recherchen erreichten den Sender Berichte von Anwohnern der Stadt Homs, wonach der Mann auch als Abu Hamza bekannt ist. Er soll die Kontrollpunkte des Geheimdiensts der syrischen Luftwaffe in der Stadt geleitet haben und für seine Erpressung und Belästigung berüchtigt gewesen sein.
Dem Sender sei es nach eigenen Angaben bisher nicht gelungen, mit dem Beschuldigten Kontakt aufzunehmen. Laut den syrischen Faktenchecker von Verify-Sy wurde Salama vor einem Monat von einem höherrangigen Offizier in dem Gefängnis eingesperrt worden. Grund war wohl eine Meinungsverschiedenheit über das Aufteilen von erbeutetem Erpressungsgeld.
Die Korrespondentin Clarissa Ward muss sich seitdem für den Beitrag rechtfertigen. „Während CNN sorgfältige Untersuchungen durchführte, um das Problem im Nachhinein aufzudecken, stellt sich die Frage, ob das Netzwerk mehr hätte tun können oder sollen, um die Geschichte des Gefangenen zu überprüfen, bevor sie verwendet wurde“, kommentierte AP-Journalist David Bauder den Vorfall.
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Gefängnisse in Syrien: Angehörige suchen noch nach Zehntausenden Vermissten
„Ich denke, wir müssen angesichts der Herausforderungen bescheiden sein“, sagte Ward am Dienstag in einer CNN-Sendung. „Es herrscht eine chaotische Atmosphäre, es herrscht ein enormer Wandel und es ist sehr schwierig, Informationen vor Ort in Echtzeit zu überprüfen … Geschichten nehmen unerwartete Wendungen.“ Man müsse weiter ohne Angst oder Parteinahme berichten, aber gleichzeitig transparent sein.
In Syrien werden immer noch Zehntausende Menschen vermisst, die während der Herrschaft des Assad-Clans in den Gefängnissen verschwanden. Seit dem Einmarsch der HTS-Rebellen in die wichtigsten syrischen Städte – inklusive der Hauptstadt Damaskus – kommen immer mehr Details zum brutalen Gefängnis- und Geheimdienstsystem ans Licht.
Tausende Syrer zogen nach Assads Flucht zum berüchtigten Militärgefängnis Saidnaja bei Damaskus, um nach Spuren ihrer Angehörigen zu suchen. Der Vereinigung der Gefangenen und Vermissten des Saidnaja-Gefängnisses (ADMSP) zufolge befreiten die Milizen rund 4000 Insassen aus dem Saidnaja-Gefängnis. Die im Süden des Nachbarlandes Türkei angesiedelte Organisation nimmt an, dass zwischen 2011 und 2018 dort mehr als 30.000 Häftlinge starben – durch Hinrichtung, Folter, Hunger und mangels medizinischer Versorgung.
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