Damaskus. In Assads Militärgefängnis von Saidnaya suchen Syrer vermisste Familienmitglieder. Unserem Reporter zeigte sich das ganze Grauen des Ortes.
Das Licht des Telefons tanzt über den dokumentenübersäten Boden. Tausende Schicksale liegen hier verstreut. Mouhammad Ismail hockt vor einer Wand, von der der Putz abbröckelt, nimmt einen Umschlag in die Hand, schaut kurz darauf, legt ihn mit zitternder Hand wieder zur Seite. Für jeden Gefangenen in der Hölle von Saidnaya gibt es einen solchen Umschlag.
Darin sind die Dokumente mit ihren persönlichen Daten aufbewahrt, die Briefe zwischen den Sicherheitsorganen und der Gefängnisleitung, die Meldungen, ob ein Gefangener exekutiert wurde oder an den Folgen der Folter gestorben ist. „Mein Bruder ist 2018 hierhergebracht worden. 2021 haben sie uns verboten, ihn weiter zu besuchen.“ Ismail atmet tief durch. Er will nicht aufgeben, nach einem Lebenszeichen seines Bruders zu suchen. Nach dem Fall des Regimes beginnt die Suche nach den Verschwundenen.
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Das Militärgefängnis von Saidnaya, nördlich der syrischen Hauptstadt, ist das steingewordene Symbol der Brutalität der Assad-Diktatur. Es kauert auf einem Hügel, umgeben von stacheldrahtbewehrten Sicherungsringen. Drei Flügel, drei Stockwerke über der Erde, eines darunter. Hier hat das Regime Oppositionelle und fahnenflüchtige Soldaten eingesperrt, gefoltert, ermordet. Wie viele Menschen in diesem monströsen Gebäude gestorben sind, ist unklar. Amnesty International schätzte die Zahl der Opfer allein in der Zeit zwischen September 2011 und Dezember 2015 auf bis zu 15.000.
Als Baschar al-Assad vor etwas mehr als einer Woche fluchtartig das Land verlässt, das er und sein Vater Hafiz länger als ein halbes Jahrhundert unterjocht hatten, öffneten die Sieger die Gefängnistore. Videos von verstörten, bleichen Inhaftierten kursierten im Netz, von Kindern, die in der Haftanstalt geboren worden sein sollen und niemals die Freiheit erlebt hatten. Jetzt durchsuchen verzweifelte Menschen die Haftanstalt, um ihre verschwundenen Angehörigen zu finden.
Syrien: Chaos im Gefängnis erschwert die Suche nach verschwundenen Verwandten
Die Suche nach den Verwandten wird durch das Chaos im Gefängnis erschwert. Niemand hat sich die Mühe gemacht, sie zu sammeln und zu sortieren. „Leider scheint es, dass böse Hände die Papiere zerstreut haben“, sagt Ismail. Hat das Regime im letzten Moment noch alles getan, um es den Menschen schwer zu machen, ihre Liebsten zu finden?
Draußen klaffen große Löcher im Boden und in den Wänden, die Aufständischen haben sich mit Gewalt Einlass verschafft. Islamistische Kämpfer fahren auf ihren Motorrädern um die Anstalt, die Abgaswolken wabern in der Luft. Überall stehen Leute in Gruppen zusammen, reden, diskutieren, zeigen sich gegenseitig auf ihren Telefonen Bilder und Videos von den Menschen, die sie vermissen.
Eine junge Frau stützt ihre Mutter, versucht, sie zu beruhigen. Die alte Dame schreit und schimpft, stapft wütend über die Betonbrocken und den Unrat vor dem Gefängnis. Sie ist außer sich. Ihr Sohn ist vor zwölf Jahren an einem Checkpoint von Regime-Soldaten festgenommen worden und seitdem verschwunden. „Unser Dorfvorsteher hat uns gesagt, er habe gehört, er sei tot. Andere sagen, er sei vor dem Sturz Assads an die Küste gebracht worden“, sagt ihre Tochter. Möglicherweise, glaubt sie, sollten ihr Bruder und andere Gefangene für Regime-Anhänger als Verhandlungsmasse dienen.
Rizk sucht nach seinem Schwiegervater und drei Cousins: „Wir suchen sie wie eine Nadel im Heuhaufen“
Khaled Rizk steht mit einem Freund vor einem Betonklotz, auf dem Dokumente liegen, er sucht nach seinem Schwiegervater und drei seiner Cousins. Sie wurden 2013 in Al Tal, einem Vorort von Damaskus, verhaftet. „Wir suchen sie wie eine Nadel im Heuhaufen“, sagt Rizk. Er bittet die Vereinten Nationen um Hilfe: „Sie sollten Spezialisten schicken, vielleicht sind die Verschwundenen ja noch in unentdeckten Untergrundgefängnissen.“
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In diesen Tagen nach dem Umsturz brodelt die Gerüchteküche. Hinter einem Konferenzzentrum in Najha, südlich von Damaskus, sei ein gewaltiges Gräberfeld entdeckt worden mit 75.000 Menschen, die im Gefängnis Saidnaya ermordet worden seien. Kämpfer der islamistischen Hayat Tahrir al-Scham (HTS), die in der Gegend Checkpoints besetzen, sagen, sie hätten bei Grabungen nichts gefunden. Als das Gefängnis geöffnet wird, heißt es, es gebe dort zahlreiche Stockwerke unter der Erde, in denen Gefangene in mit Codes gesicherten Zellen festgehalten würden. Das stellt sich als falsch heraus.
Tatsächlich gibt es nur ein unterirdisches Geschoss in dem Gefängnis. Es riecht hier nach menschlichen Ausscheidungen, es ist dunkel. Wer hier unten landete, musste in kleinen Einzelzellen darben, zu klein, um sich auf den nackten Betonboden ausgestreckt hinlegen zu können. Menschen, die hier über längere Zeit eingesperrt waren, ohne den Verstand zu verlieren, müssen einen sehr starken Willen haben. Ein Mann eilt von Zelle zu Zelle, sucht die Wände nach Inschriften ab. Er wirkt gehetzt. Ein anderer steht in einer der Zellen, öffnet die schwere Eisentür, schließt sie wieder.
Unter Einsatz von Baggern: Suche nach verborgenen Zellen im Untergrund
Adnan, Mitte 40, ist auf der Suche nach seinem Schwager und zwei seiner Cousins. Ihm sei gesagt worden, sie seien noch hier, irgendwo in den Eingeweiden des Gefängnisses. „Wir haben hier überall gegraben, sogar mit Bulldozern und Baggern. Wir haben aber nichts gefunden.“ Die vielen Löcher im Boden zeugen von den vergeblichen Versuchen, in die Tiefe zu buddeln, um verborgene Zellen zu finden. Auf dem großen Sicherungsgelände um den Gefängnisbau herum trauen sie sich nicht zu baggern. Es ist zu gefährlich, glaubt Adnan, dort sollen viele Minen vergraben sein.
In den Stockwerken über der Erde lassen einzelne Räume erahnen, was hier geschehen ist. „Disziplinierung“ steht auf einer der Türen der Wärter. Übersetzt: Folter. Zumindest war die Unterbringung der Inhaftierten über der Erde weniger grauenhaft als in den Isolierzellen darunter.
Im C-Trakt sollen hochrangigere Gefangene untergebracht gewesen sein, hier stehen in manchen Zellen sogar jeweils vier eiserne Betten. Im B-Trakt sind die Gemeinschaftszellen für die regulären Häftlinge. 20 Gefangene und mehr sollen hier untergebracht gewesen sein, sie mussten auf dem nackten Boden schlafen. Auf dem Boden liegen noch ihre Wolldecken und ihre braunen Häftlingsuniformen. Khaled Sawayyas möchte die Zelle sehen, in der sein Bruder eingesperrt war.
Wieder in Freiheit: Khaled Sawayya möchte sehen, wo sein Bruder eingesperrt war
Vor einer der Zellen steht eine junge Frau und redet weinend auf einen jungen Mann ein. Sie sucht ihren 2016 verhafteten Ehemann. Khaled Sawayya kann ihr nicht helfen, er ist vor allem hier, um die Zelle zu sehen und zu fotografieren, in der sein Bruder eingesperrt war. Die Familie stammt aus Daara, jener Region im Süden, in der 2011 der Aufstand gegen Assad losbrach. 2018 sei sein Bruder desertiert und daraufhin verhaftet worden, erzählt Sawayya. Jetzt ist der Bruder frei.
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Die Familie ist natürlich glücklich. „Aber er ist sehr krank und emotional erschöpft.“ Außerdem sucht der junge Mann noch seinen Cousin. Oudai Abdalla Sawwaya wird seit sechs Jahren vermisst. Ob er noch Hoffnung habe? Der junge Mann zuckt resignierend mit den Schultern.