Brüssel. Der Migrationsdruck bleibt hoch. Die Chefin der EU-Asylagentur, Gregori, über Risiken, Hilfen für Syrer und eine Zäsur für Deutschland
Die Zahl der Asylbewerber in der Europäischen Union wird dieses Jahr bei rund einer Million liegen, nur etwas weniger als im Jahr 2023, sagt die Direktorin der EU-Asylagentur EUAA, Nina Gregori, im Interview. Die Juristin aus Slowenien erklärt, wie Deutschland dasteht, ob sich im Umgang mit den syrischen Flüchtlingen jetzt etwas ändert und wie ihre Rückkehr erleichtert werden könnte. Auf den Nahen Osten blickt sie mit Sorge: Millionen Flüchtlinge aus Syrien warteten noch in den Nachbarländern.
Frau Gregori, was heißt der Sturz des Assad-Regimes in Syrien für Millionen syrischer Flüchtlinge in Europa – und was für neue Asylbewerber?
Nina Gregori: Das lässt sich noch nicht abschätzen. Wir beobachten sehr genau, ob sich die Situation in Syrien stabilisiert und ob das neue Regime tatsächlich in der Lage ist, das gesamte Territorium des Landes zu kontrollieren. Die EU-Staaten sind im Moment ziemlich vorsichtig. 15 Mitgliedstaaten haben die Asylverfahren ausgesetzt, weil sie abwarten wollen, was jetzt in Syrien passiert …
… auch Deutschland gehört dazu…
Gregori: Das ist nach den EU-Regeln unter diesen Umständen möglich. Wir sehen aber auch schon, dass Syrer zurück nach Syrien gehen – es ist noch keine Massenbewegung, aber es findet viel Beachtung in den sozialen Netzwerken.
Rechnen Sie mit vielen Rückkehrern nach Syrien?
Gregori: Was wirklich mit den Menschen passiert, die schon in der EU sind, ist offen. Die Syrer sind mit völlig unterschiedlichem Aufenthaltsstatus hier, das ist sehr komplex: Ein Teil lebt schon lange in Europa mit anerkanntem Flüchtlingsstatus, einige haben nur zeitweises Aufenthaltsrecht, andere warten noch auf eine Entscheidung. Wir müssen realistisch sein: Ein Teil der Menschen hat sich ein neues Leben in Europa aufgebaut, sie sind integriert, ihre Kinder gehen hier zur Schule.
Trotzdem wird früher oder später auch über Abschiebungen gesprochen ...
Gregori: Es können sich längerfristig für die Mitgliedstaaten legale Möglichkeiten eröffnen, für einen Teil der Syrer das Aufenthaltsrecht zu beenden, abhängig davon, ob und wie sich die Lage in Syrien stabilisiert. Aber die Frage ist: Wollen die Menschen freiwillig zurückgehen? Wir haben ein Instrument, um freiwillige Rückkehrer zu unterstützen – in Zusammenarbeit mit der IOM, der Internationalen Organisation für Migration. Solche auch finanzielle Hilfen für eine freiwillige Rückkehr können eine sinnvolle Maßnahme sein. Vordringlicher ist die Frage, ob der Zustrom neuer Asylbewerber nach Europa zurückgeht. Die Menschen werden in Syrien für die Stabilisierung und den Wiederaufbau gebraucht, das wird die Zahl von Schutzsuchenden voraussichtlich sinken lassen.
Ihre EU-Asylagentur gibt den nationale Asylbehörden wichtige Einschätzungen zur Sicherheitslage in den Herkunftsländern. Wird die Bewertung für Syrien jetzt schnell geändert?
Gregori: Der gestürzte Machthaber Assad war hauptverantwortlich für die Verfolgung von Menschen in Syrien. Je nach Entwicklung der Lage müssen wir prüfen, ob es jetzt andere Gründe geben wird, die einen Asylantrag rechtfertigen können. Wir werden zügig eine Überarbeitung unserer Bewertung vorlegen, gestützt auf viele Quellen. Aber ich muss betonen, dass unser Landesleitfaden für Syrien kein Instrument für mögliche Abschiebungen ist, sondern eher auf die Bewertung von Asylanträgen abzielt. Das ist ein wichtiger Unterschied.
Denkbar ist immer noch, dass es zu einem neuen Bürgerkrieg in Syrien kommt. Würde das eine neue Flüchtlingswelle auslösen?
Gregori: Das lässt sich zu diesem frühen Zeitpunkt nicht seriös beantworten. Es kommt jetzt darauf an, die Bildung einer stabilen Regierung in Syrien zu unterstützen. Und es gibt den Willen in der EU und von den EU-Institutionen, das zu tun, die Ressourcen sind ja vorhanden. Wir sollten in den Wiederaufbau Syriens und die demokratischen Institutionen investieren.
Wenn das gelingt, stünde mittelfristig doch eine große Zäsur bei der Migration nach Europa bevor – bei der zentralen Rolle, die Syrien bisher spielte?
Gregori: Ja. Das wäre gerade für Deutschland sehr bedeutsam. Deutschland hat ja in der EU die meisten syrischen Asylbewerber aufgenommen.
Wie ist die Entwicklung der Asylzahlen insgesamt? Wie ist Ihre vorläufige Bilanz für dieses Jahr?
Gregori: Wir erwarten in der EU und den assoziierten Ländern Norwegen und Schweiz eine relativ stabile Entwicklung. In der EU wurden 2023 1,1 Million Anträge von Asylbewerbern registriert. In den ersten zehn Monaten 2024 waren es rund 860.000 Asylanträge, das ist etwas weniger als im Vorjahreszeitraum. Am Ende des Jahres dürfte die Zahl bei etwa einer Million Anträgen von Asylbewerbern liegen.
Kein weiterer Anstieg mehr. Ist der Höhepunkt bei den Asylbewerberzahlen überschritten?
Gregori: Eine Vorhersage ist schwierig. Migrationsbewegungen sind auch abhängig von geopolitischen Entwicklungen, das haben wir in den letzten Jahren immer wieder erlebt. Die Situation im Nahen Osten bleibt schwierig. Millionen von Flüchtlingen aus Syrien halten sich noch in Nachbarländern auf. Wir wissen nicht, wie sich die Dinge im Libanon entwickeln könnten. Unsere Devise ist: Wir müssen vorbereitet sein.
Wo kommen dieses Jahr die Flüchtlinge vor allem her, wo gehen sie hin?
Gregori: Das wichtigste Hauptzielland ist Deutschland. Hauptherkunftsland ist weiter Syrien, gefolgt von Afghanistan und Türkei. Dicht dahinter kommen Venezuela und Kolumbien, was bemerkenswert ist, weil die Asylbewerber aus diesen beiden Ländern ohne Visa in die EU einreisen können. Inzwischen kommen insgesamt 20 Prozent der Asylbewerber aus Ländern, für die Visafreiheit in der EU besteht – das ist ziemlich viel. Wir haben auch weiterhin eine bedeutende Zahl von Flüchtlingen aus der Ukraine: Es sind jetzt auch 4,4 Millionen, die nach einem EU-Beschluss unter zeitweisen Schutz fallen und damit keinen Asylantrag stellen müssen.
Haben wir eine Migrationskrise? In vielen Mitgliedstaaten nehmen die Klagen über die Belastung zu, in Deutschland zum Beispiel wurde über die Grenzschließung für Asylbewerber diskutiert.
Gregori: Das Wort Krise wird oft benutzt, aber es beschreibt nicht wirklich die aktuelle Situation, die sich wie gesagt mit Blick auf die Antragszahlen stabilisiert hat. Natürlich bleibt es dabei, dass wir einen kontinuierlichen Zustrom nach Europa beobachten, übrigens mit einer relativ hohen Anerkennungsquote unter den Schutzsuchenden: Die Quote liegt aktuell bei 49 Prozent – also praktisch die Hälfte erhält einen Schutzstatus. Das ist ziemlich viel. Das Problem ist eher die lange Dauer der Asylverfahren, oft drei oder vier Jahre inklusive der Gerichtsverfahren. Dadurch halten sich in den Mitgliedstaaten natürlich entsprechend viele Asylbewerber auf.
Der neue Asyl- und Migrationspakt soll das ab 2026 ändern…
Gregori: Wir sind froh, dass dieser Pakt beschlossen ist. Die Reform wird hoffentlich die Asylverfahren deutlich verkürzen. Wenn künftig Menschen aus Ländern kommen, bei denen die Anerkennungsrate unter 20 Prozent liegt, wird ein beschleunigtes Verfahren an den Außengrenzen stattfinden. Die Rechte der Betroffenen bleiben gewahrt, aber es gibt die Möglichkeit, schneller festzustellen, wer nicht asylberechtigt ist und möglichst bald wieder abgeschoben werden kann. Das brauchen wir. Und der Pakt macht einen Schritt zu einem gemeinsamen europäischen Asylsystem. Bislang hatte jedes EU-Land jeweils ein eigenes System, was die Unterbringung, die Versorgung und auch was den Zugang zum Arbeitsmarkt anbelangt. Alles hängt jetzt von der Umsetzung der Reform ab.
Wird die rechtzeitig gelingen?
Gregori: Die Mitgliedstaaten bereiten sich vor, wir als Agentur auch. Wir müssen alle unsere Instrumente anpassen, mit denen wir den Mitgliedstaaten helfen. Die EUAA erarbeitet übrigens auch einen Überblick, wie die Mitgliedstaaten mit Krisenplänen auf den Fall einer möglichen Massenmigration vorbereitet sind. Und wir bereiten uns vor auf das geplante mögliche EU-Konzept sicherer Herkunfts- und Drittstaaten: Das könnte ein weiterer Wendepunkt beim Migrationsmanagement sein.
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