Berlin. Sind Sozialdemokraten die Krisenkanzler? Bisher gab es nur einen CDU-Kanzler, der die Vertrauensfrage stellte. Was hat es damit auf sich?
Wenn Bundeskanzler Olaf Scholz am Montag im Bundestag die Vertrauensfrage stellt, ist er der fünfte Regierungschef der Bundesrepublik, der auf diese Weise die politischen Machtverhältnisse im Land klären möchte. Ist es Zufall, dass alle vier SPD-Kanzler diesen vom Grundgesetz eröffneten Ausnahmeweg gewählt haben, davon Gerhard Schröder sogar zweimal? Von der CDU war es allein Helmut Kohl, der ganz zu Beginn seiner 16-jährigen Amtszeit mit einer absichtlich verlorenen Vertrauensabstimmung Neuwahlen herbeiführte, die seiner schwarz-gelben Koalition 1983 zu einer größeren Mehrheit verhalfen.
Sind Sozialdemokraten also die Krisenkanzler? Tatsächlich ist es wohl so, dass die vier Regierungschefs der SPD, die bisher die Bundesrepublik geführt haben, mit jeweils besonders umstrittenen Herausforderungen konfrontiert waren, die zu schweren innenpolitischen Turbulenzen geführt haben. Unsichere Mehrheitsverhältnisse im Bundestag waren dann die Folge.
Gerhard Schröder und die zwei Vertrauensfragen
Schröder hat als einziger beide Varianten genutzt, die der Artikel 68 des Grundgesetzes für diesen Fall eröffnet: Entweder kann der Kanzler sich mit der Vertrauensfrage der eigenen Mehrheit im Parlament versichern und sie sogar mit einer Sachfrage verbinden. Oder er kann feststellen lassen, dass er nicht mehr das Vertrauen der Mehrheit der Abgeordneten besitzt, worauf der Bundespräsident den Bundestag auflösen und Neuwahlen ansetzen kann.
Bei seiner ersten Vertrauensfrage am 16. November 2001 verknüpfte Schröder sein Amt mit der Abstimmung über die erstmalige Entsendung von Bundeswehrsoldaten zu einem Einsatz außerhalb des Nato-Gebiets, zum Anti-Terrorkampf in Afghanistan. Dagegen regte sich in den Fraktionen der SPD und der Grünen Widerstand, sodass Schröder es auf eine Machtprobe ankommen ließ – wer gegen den Einsatz stimmte, stimmte auch gegen ihn als Kanzler. Am Ende setzte sich die Koalitionsdisziplin durch, der Kanzler erhielt das Vertrauen der Mehrheit des Hauses und hatte gleichzeitig eine grundlegende Neuorientierung der deutschen Außenpolitik erreicht.
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Vier Jahre später führte die von Schröder ins Werk gesetzte „Agenda 2010“ mit ihren Arbeitsmarktreformen zu schweren sozialpolitischen Auseinandersetzungen, bei denen die Gewerkschaften Sturm gegen die rot-grüne Regierung liefen. Viele sahen in der Agenda einen Bruch mit den Regeln der sozialen Marktwirtschaft zu Lasten der Arbeitnehmer. Bei mehreren Landtagswahlen erlitten die Sozialdemokraten Niederlagen, zuletzt verloren sie im Mai 2005 die Regierungsmehrheit in Nordrhein-Westfalen.
„In der Folge dessen wurde deutlich, dass es die sichtbar gewordenen Kräfteverhältnisse ohne eine neue Legitimation durch den Souverän, das deutsche Volk, nicht erlauben, meine Politik erfolgreich fortzusetzen“, sagte Schröder am 1. Juli zur Begründung der Vertrauensfrage im Bundestag. „Mein Antrag hat ein einziges, ganz unmissverständliches Ziel: Ich möchte dem Herrn Bundespräsidenten (…) die Anordnung von Neuwahlen vorschlagen können.“
Schröder orientierte sich dabei an dem ersten sozialdemokratischen Kanzler Willy Brandt. Der hatte 1972 im Zuge der Auseinandersetzungen über seine Ostpolitik eine eindeutige Mehrheit für seine sozialliberale Koalition im Bundestag verloren. Der mit Polen ausgehandelte Warschauer Vertrag bedeutete im Kern den endgültigen Verzicht auf die einstigen deutschen Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Grenze, also ein wirklich bedeutsamer, historischer Schritt in der Geschichte des Landes, der auch in der Öffentlichkeit heftig umstritten war. Die Abstimmung über die Vertrauensfrage am 22. September 1972 ergab erwartungsgemäß keine Mehrheit, mehrere Koalitionsabgeordnete waren zur CDU/CSU übergetreten. Doch bei der im Herbst folgenden Bundestagswahl errang die SPD mit Brandt den höchsten Wahlsieg ihrer Geschichte. Dieser Erfolg war Schröder 2005 nicht vergönnt. Die SPD unterlag der CDU/CSU mit der Kanzlerkandidatin Angela Merkel allerdings denkbar knapp, was zu einer großen Koalition führte.
Vertrauensfrage: Und wieder ist es die SPD
Auch der Nachfolger Brandts, sein Parteifreund Helmut Schmidt, regierte die Bundesrepublik in krisengeschüttelten Zeiten. Die Terroristen der RAF untergruben mit ihren Mordanschlägen die öffentliche Sicherheit, die ersten Ölkrisen führten zu Rezession und wachsender Arbeitslosigkeit, die Auseinandersetzungen über die Nachrüstung und den Ausbau der Atomindustrie spalteten die SPD und ließen die Grünen erstarken. Um Absetzbewegungen des Koalitionspartners FDP zu unterbinden, nutzte Schmidt im Februar 1982 das Mittel der Vertrauensfrage, um die Liberalen zu einem Bekenntnis zum Kanzler zu zwingen. Das gelang, doch schon im Herbst reichte die FDP der CDU/CSU die Hand zu einem konstruktiven Misstrauensvotum gegen Schmidt und wählte Helmut Kohl zum Kanzler.
Und nun also Olaf Scholz. Nach 16 Jahren stabiler Mehrheiten mit Angela Merkel ist es wieder ein Sozialdemokrat, der angesichts seiner zerbrochenen Koalition und unter dem Druck der Opposition „eine neue Legitimation durch den Souverän, das deutsche Volk“ sucht. Olaf Scholz ist gewiss ein Krisenkanzler, der Kanzler einer Zeitenwende, wie sie keiner seiner Vorgänger zu bewältigen hatte und erster Chef einer schwierigen Dreierkoalition. Es spricht für die Qualität des Grundgesetzes, dass es auch für diese Situation einen sicheren Weg zu Neuwahlen weist, weit entfernt von jenen Untiefen, die derzeit Frankreich zu durchmessen hat.