Paris. Nach dem Regierungssturz kündigt der Präsident eine Koalition des „Allgemeinwohls“ an. Ob die moderate Linke mitmachen wird, bleibt offen.
Frankreich wachte am Donnerstag mit dem Gefühl auf, dass in der Nacht Einbrecher dagewesen waren. Sie hatten der Regierung den Boden unter den Füßen weggezogen – zumindest dem Premierminister, dem 73-jährigen Konservativen Michel Barnier. Drahtzieherin war eine unheilige Allianz aus Rechts- und Linksaußen: Marine Le Pens Rassemblement National und Jean-Luc Mélenchons „Unbeugsame“, die auch modere Linksparteien wie die Sozialisten und die Grünen mitgezogen hatten. Mit 311 Stimmen bei 577 Sitzen in der Nationalversammlung beendeten sie Barniers Amtszeit „auf brutale Weise“, wie Le Figaro kommentierte. Und nach nur drei Monaten – ein Minusrekord in der Fünften Republik, dazu eine Premiere seit dem letzten, folgenlosen Sturz im Jahre 1962.
Auslöser – eher: Vorwand – war der Haushalt der Sozialversicherung, an dem Barnier zu Sparzwecken einige Abstriche anbringen wollte. Nun steht die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU ohne Regierung und ohne Budget dar. Die französischen Medien beruhigten die Nation den ganzen Tag über: Der Staat werde die Beamtenlöhne auch ohne Haushalt zahlen; und da mangels Sparhaushalt 2025 jetzt einfach der Haushalt 2024 weitergelte, zahlten die Bürger sogar gut hundert Euro weniger Steuern. In diesem Punkt gilt der viel gescholtene Staatsapparat als Vorteil: Anders als der schwache Bundesstaat der USA geht dem französischen Zentralstaat das Geld nie aus.
Trotzdem ist Frankreich in Sorge: Die Ratingagentur Moody’s gab noch vor dem offiziellen Rücktritt Barniers am Donnerstag eine Bewertung heraus, laut der der Regierungssturz „die Wahrscheinlichkeit einer Konsolidierung der Staatsfinanzen reduziert“. Anders als von Barnier vorgesehen wird der Haushalt vorläufig nicht um 60 Milliarden Euro gekürzt. Der einflussreiche Ökonom Nicolas Bouzou erklärte am Donnerstag, es sei zu befürchten, dass das Budgetdefizit weiter ausufere.
Misstrauensabstimmung: Oppositionelle Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon wirken nicht wie Sieger
„Kurzfristig sehe ich allerdings keine Finanzkrise“ durch den Regierungssturz, meinte Bouzou beruhigend. Frühindikatoren zeigen allerdings, dass die politische Unsicherheit die Investitionsfreude der Firmen schmälert. Wie seit langem geplant, streikten am Donnerstag in Frankreich auch die Beamtengewerkschaften für höhere Löhne – Zeichen, wie düster die Wirtschaftslage in Frankreich schon vor dem Premier-Rauswurf war.
Die objektiven Sieger der Misstrauensabstimmung wirken gar nicht wie Sieger. Jean-Luc Mélenchon, der mit dem Regierungssturz vor allem Präsident Emmanuel Macron in die Knie zwingen will, frohlockte am Mittwochabend etwas vorschnell. Seine moderateren Partner der „Neuen Linksfront“, darunter auch Sozialistenchef Oliver Faure, schlagen die Bildung eines „minimalen“ Regierungspaktes aus den Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Parteien vor – aber ohne die „Unbeugsamen“ von Mélenchon. Die von ihm gezimmerte Linksfront würde eine solche Mitte-Koalition nicht überleben.
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Marine Le Pen frohlockte gar nicht erst. Die Rechtsnationale suchte sich fast schuldbewusst zu rechtfertigen, dass es „nur diese Lösung“ gegeben habe. Sie habe sie „nicht leichten Herzens“ gewählt, räumte sie ein. Beide, Mélenchon wie Le Pen, vereint der innige Wunsch, Macron abzusägen.
Macron verspricht „Regierung des Allgemeinwohls“
In einer Fernsehansprache warf Macron der extremen Rechten und Linken vor, sie wollten „mit Zynismus und einem gewissen Sinn für das Chaos“ neue Präsidentschaftswahlen erzwingen. Doch er sei entschlossen, sein Amt bis zu seinem Mandatsende im Jahr 2027 auszuüben.
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Macron versprach, „in den nächsten Tagen» einen Premierminister zu ernennen, der eine „Regierung des Allgemeinwohls“ zu bilden habe. Die beteiligten Parteien hätten sich zu verpflichten, bis zu den nächsten Wahlen im nächsten Sommer keinen Regierungssturz zu provozieren. Mitte Dezember solle die Nationalversammlung das Budget 2024 fortsetzen, um im neuen Jahr endlich den Haushalt ’25 zu billigen.
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Macron erklärte weiter, er am Samstag zur Wiedereröffnung der Notre Dame-Kathedrale fünf Jahre nach ihrem Brand Staatsgäste aus aller Welt empfangen. Hauptgast wird der designierte US-Präsident Donald Trump sein. Ihn hatte Macron 2017 an die Truppenparade des französischen Nationalfeiertages eingeladen - und offenbar beeindruckt. Jetzt will er mit der ebenso groß angelegten Feier für die Pariser Schutzpatronin nachdoppeln.
Dazu hofft Macron auch den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskiy zu empfangen – und mit Trump zusammenzubringen. Der globale Troubleshooter bedeutet der Nation, dass er über der Sache stehe und sich mit wichtigen internationalen Themen befasst, während sich die Abgeordneten und Minister in Paris in eine Regierungskrise verstricken.
Dass er das politische Schlamassel selber angerichtet hatte, dürfen sich seine Landsleute selber zusammenreimen. Und sie werden es auch tun.
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