Berlin. Rebellen haben die Großstadt Aleppo erobert. Für Beobachter kommt die Situation nicht unerwartet – für Deutschland könnte sie Folgen haben.
Die Regierung des syrischen Herrschers Baschar al-Assad hat die Kontrolle über die Großstadt Aleppo nach Angaben von Aktivisten der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte verloren. Rebellen der jihadistischen Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS), die in der Nachbarprovinz Idlib herrschen, haben die Stadt eingenommen. Experten gehen davon aus, dass mehrere Zehntausend Kämpfer zu den Rebellen gehören. Ein Konflikt, der nie wirklich befriedet war, flammt jetzt wieder auf. Für Europa könnte das möglicherweise eine verstärkte Fluchtbewegung aus dem Nahen Osten bedeuten. Ein Überblick über die Lage.
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Wie viele Menschen sind bislang bei den Kämpfen ums Leben gekommen?
„Erstmals seit Beginn des Konflikts im Jahr 2012 ist die Stadt Aleppo nicht mehr unter der Kontrolle der syrischen Regimekräfte“, sagte der Chef der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel Rahman, am Sonntag der Nachrichtenagentur AFP mit Blick auf die zweitgrößte syrische Stadt. Aleppo war bis zu seiner Rückeroberung durch die Regierungstruppen von Machthaber Baschar al-Assad 2016 Schauplatz erbitterter Kämpfe während des Bürgerkrieges.
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Die HTS hatten am Mittwoch eine überraschende Großoffensive gegen die Streitkräfte der syrischen Regierung gestartet. Bei den heftigsten Kämpfen seit 2020 wurden laut der Beobachtungsstelle bislang mehr als 320 Menschen getötet, darunter 44 Zivilisten.
Ist das Assad-Regime in der Lage, hart zurückzuschlagen?
Die Assad-Regierung gilt als geschwächt, weil die wichtigsten Unterstützer Iran und Russland in eigene Kriege und Konflikte involviert sind. Nichtsdestotrotz verfüge die syrische Regierung über Einheiten, die in der Lage seien, Häuserkämpfe zu führen, sagte der Nahost-Experte Daniel Gerlach der dpa. Die Strategie, sich zunächst zurückzuziehen und dann mit erfahrenen Einheiten zurückzuschlagen, sei in den vergangenen Jahren immer wieder zu beobachten gewesen, sagte Gerlach. Damit werde die syrische Regierung voraussichtlich bereits in der nächsten Woche beginnen.
Wie wahrscheinlich ist es, dass Europa mit einer neuen Flüchtlingsbewegung zurechtkommen muss?
Der Fluchtdruck wird durch die Eskalation wieder steigen. Bislang sollen sich bis zu 50.000 Menschen vor den Kämpfen in Sicherheit gebracht haben. Es könnten deutlich mehr werden, sollten die islamistischen Verbündeten der Türkei in Tel Rifaat einfallen. Die Wirtschaftslage sowohl in den vom Regime kontrollierten Gebieten als auch in jenen unter der Kontrolle der Oppositionsgruppen ist katastrophal. Die Zahl derjenigen, die sich auf den Weg nach Europa machen, könnte erheblich zunehmen.
Damit rechnet auch der Sicherheitsexperte Carlo Masala. „Wenn diese Gefechte an Intensität zunehmen und sich im ganzen Land ausbreiten, wird es zu neuen Flüchtlingswellen kommen“, sagte Masala dieser Redaktion.
Der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Jürgen Hardt, sieht im Gespräch mit unserer Redaktion ebenfalls „Fluchtpotential“ – „auch weil unklar ist, wie die bunt zusammengewürfelte Opposition, in der auch Jihadisten mit den Ton angeben, vor Ort auftreten wird“. Allerdings könnte es für manche Menschen auch eine „Befreiung“ sein, wenn kurdische oder türkisch unterstützte Kräfte ihre Gebiete erobern.
Hardt verwies auf die zentrale Rolle der Türkei, wohin alle Routen aus Nordsyrien führen. „Die neue EU-Kommission muss rasch zu einem neuen Migrationsdeal mit der Türkei kommen“, forderte der Außenpolitiker. Deutschlands Stimme werde wegen des „Ampelchaos“ dabei kaum eine Rolle spielen.
Hardts Parteifreund, der Unionsinnenpolitiker Alexander Throm, hat sich gegen die Aufnahme möglicher Flüchtlinge aus dem Krisenstaat in Deutschland ausgesprochen. „Sollten sich Fluchtbewegungen aufgrund des Vorrückens jihadistischer Gruppierungen in Nordsyrien ergeben, so haben diese innerhalb sicherer Bereiche des Landes oder in Nachbarstaaten zu erfolgen“, sagte der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion dieser Redaktion. Das internationale Flüchtlingsrecht sehe als Grundgedanken eine Verantwortlichkeit vor allem der Nachbarländer als Zufluchtsländer vor. „Nach dem Grundsatz: Kurze Wege in die Sicherheit und kurze Wege wieder zurück ins Heimatland.“
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Deshalb seien die Staaten in Europa auch in erster Linie für die Flüchtlinge aus der Ukraine verantwortlich. „Im EU-Vergleich hat Deutschland mit Abstand die meisten ukrainischen Flüchtlinge aufgenommen“, sagte der CDU-Politiker. „Über diese Gruppe hinaus braucht es die von der Union geforderten Zurückweisungen an der Grenze für Personen, die bereits in anderen sicheren Staaten hätten Asyl beantragen können.“
Dass in erster Linie die Anrainerstaaten für etwaige Geflüchtete zuständig sind, sieht auch der außenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Ulrich Lechte, so: „Diese Staaten haben schon wie im Fall der Türkei - 3, Millionen -, Libanon - 1,5 Millionen - und Jordanien - 1,3 Millionen - zusammen zwei Drittel der außer Landes geflohenen Syrer aufgenommen.“ Lechte forderte eine zusätzliche Versorgung sowie internationale Hilfe. 2015 sei der „Flüchtlingsstrom nach Europa“ vor allem in Gang gesetzt worden, weil Hilfsorganisationen wie dem UNHCR das Geld für die Versorgung ausgegangen sei. Lechte mahnte, dem Handlungsbedarf nachzukommen. „Hoffentlich hat der Kanzler in seinem Wahlkampfwahn und blindem Zorn noch den Funken Verstand, die nötigen Schritte einzuleiten und Hilfe bereitzustellen“, sagt Lechte dieser Redaktion. Ansonsten böte die in Deutschland lebende syrische Diaspora einen „guten ersten Anlaufpunkt“ für weitere Flüchtlinge.
Der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Nils Schmid, warnte indes vor „voreiligen Schlüssen“ bei einem „bislang lokal begrenzten Ereignis“. Das Vordringen der Jihadisten zeige jedoch, dass Assad „alles andere als fest im Sattel“ sitze. Es brauche nun einen politischen Prozess, der „alle Teile Syriens umfasst, die Aussöhnung der verschiedenen Gruppen voranbringt und deren politische Teilhabe über eine Verfassungsreform sicherstellt“.
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Wer sind die Konfliktparteien?
Das Assad-Regime wird im Wesentlichen von Russland und dem Iran unterstützt. Russland hat Kampfjets und Wagner-Söldner entsandt. Syrien ist für Kreml-Diktator Putin vor allem wegen dem Marinestützpunkt in Tartus wichtig, dem einzigen russischen Militärhafen am Mittelmeer; aber auch, um generell seinen Einfluss in der Region zu sichern. Für den Iran kämpfen in Syrien die eigenen Revolutionsgarden, aber auch die libanesische Hisbollah und irakisch-schiitische Milizen. Syrien ist für Teheran ein Operationsraum des schiitischen Halbmonds, der sich bis zum Libanon erstreckt.
Im Norden Syriens haben mehrheitlich kurdische Kräfte eine quasi-autonome Zone geschaffen. Die „Demokratischen Streitkräfte Syriens“ (SDF) sind ein wichtiger Partner der US-geführten Anti-IS-Koalition. Die SDF werden aber von der Türkei als Ableger der kurdischen Arbeiterpartei PKK bekämpft, die Ankara, die USA und Deutschland als Terrororganisation bezeichnen. Die Türkei hat in den vergangenen Jahren mehrere Militäroperationen in Nordsyrien durchgeführt, Teile der Region besetzt und Hunderttausende Menschen vertrieben.
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Ankara bedient sich dabei der Syrischen Nationalarmee (SNA), einem Bündnis islamistischer Milizen, die in Opposition zum Assad-Regime stehen. In der Provinz Idlib hat sich die Haiat Tahrir al-Scham (HTS) durchgesetzt. Die Miliz firmierte früher unter „al-Nusra-Front“ und war mit der terroristischen Al Kaida verbündet, hat sich aber offiziell von den Dschihadisten losgesagt. Die Terroristen des „Islamischen Staats“ (IS) kontrollieren nur noch Flecken in der syrischen Wüste im Osten des Landes, führen aber immer wieder Anschläge gegen Truppen des Regimes und der SDF durch.
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