Berlin. Extremisten ködern Menschen mit Feindbildern. Doch es hat laut Experten auch mit der Persönlichkeit zu tun, wer dafür empfänglich ist.

Issa al H. stach zu, tötete drei Menschen, verletzte andere. Mitten in der Menge des Solinger Stadtfestes war seine Gewalt hemmungslos. Es war Terror gegen Feiernde, im Namen „Allahs“. Doch auch Tage nach dem Attentat erforschen die Ermittler, wann und wie sich Issa H. radikalisiert hat. Schon in Syrien? Erst in Deutschland? Kam er als IS-Kämpfer mit einem Auftrag?

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Es sind zentrale Fragen, die der Staat erfahren muss. Auch im Namen der Opfer und Hinterbliebenen. Denn nach brutalen Gewalttaten wie in Solingen fragen sich die Betroffenen vor allem eines: Warum hat es meinen Liebsten getroffen? Warum hat der Attentäter zugeschlagen? Forscherteams haben in Befragungen von Opfern herausgefunden, dass die Frage nach dem „Warum“ ähnlich wichtig ist wie eine Bestrafung des Täters. Doch genau die Frage der Radikalisierung ist eine der komplexesten. Denn jeder Terror-Fall ist anders, jeder Täter hat eine andere Geschichte, wächst anders auf, hat ein anderes psychologisches Mindset.

Wer nach Gründen dafür sucht, warum ein Mensch aus Hass tötet, darf einen Fehler nicht machen: Die Schuld für die Tat woanders suchen. Täter sind für ihre Handlungen verantwortlich – es sei denn, sie sind nachweislich schwer psychisch krank. Im Fall Solingen gibt es bisher dafür keine Hinweise. Der Täter war ideologisiert und bereit, für die Ideologie des Islamismus zu töten.

Die Menschen in Solingen trauern um die Getöteten. Gerade für die Angehörigen ist die Frage des „Warum“ besonders wichtig.
Die Menschen in Solingen trauern um die Getöteten. Gerade für die Angehörigen ist die Frage des „Warum“ besonders wichtig. © dpa | Christoph Reichwein

Doch ist es wichtig, die Wege zu kennen, die Menschen nehmen, bevor sie einen Anschlag verüben. Radikalisierung ist ein Prozess, aber auch die Deradikalisierung. Um Islamisten aus ihrer Wahnwelt zu helfen, muss man wissen, warum sie sich dort hineinbewegen.

Der Weg von Issa al H. begann in Deir ez-Zor, eine Region im Osten Syriens an der Grenze zum Irak. Und vielleicht beginnt hier auch die Suche nach den Gründen für seinen Weg in den Dschihad. Deir ez-Zor war lange Zeit eine Hochburg der Terrororganisation „Islamischer Staat“. Noch heute sollen Kämpfer dort aktiv sein. Als Issa H. Teenager war, stieg der IS zur Regionalmacht auf. Schwer vorstellbar, dass er nicht mit der Ideologie konfrontiert wurde, sagen Fachleute wie Kerstin Sischka vom Beratungsnetzwerk nexus, das mit der Charité zusammenarbeitet. H. wuchs in einer Gesellschaft auf, in der Gewalt Alltag im Bürgerkrieg war. In der Islamisten offen auf den Straßen patrouillierten. Er hat diese Erfahrungen mit nach Deutschland gebracht, so wie viele Geflüchtete aus Syrien oder Afghanistan.

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65 Prozent der europäischen Dschihadisten haben eine Geschichte der Gewalt

Gerade Gewalterlebnisse in der Vergangenheit können Menschen selbst zu Gewalttätern machen. 2014 kam eine Studie zu dem Ergebnis, dass 65 Prozent der untersuchten europäischen Dschihadisten eine Geschichte an gewalttätigen Vorstrafen hätten. Erlernte Gewalt kann zu enthemmter Gewalt führen. Täter wie Anis Amri waren der Polizei längst bekannt. Beim Solingen-Täter war das nicht so, die Sicherheitsbehörden hatten ihn nicht auf dem Schirm. Er war nicht vorbestraft.

Wie nah er in seiner Heimat dem IS stand, müssen Ermittlungen zeigen, etwa die Auswertung seines Handys. Klar ist, gerade in jugendlichen Jahren sind Menschen anfällig für radikale Denkmuster. Teenager haben selbst noch kein gefestigtes Weltbild. Abseits der Ideologie klingt der IS noch heute für junge Menschen wie das Versprechen nach einem Abenteuer – und auch seine Brutalität macht ihn attraktiv. Viele Täter, wie etwa der Berlin-Attentäter Anis Amri, zeigen einen Hang zu Drogenkonsum, auch das ein Indiz für eine Persönlichkeit, die nach einem „Kick“ sucht.

Die Lebensgeschichte von extremistischen Gewalttätern schauen sich Menschen wie Thomas Mücke vom Violence Prevention Network (VPN) und Kaan Mustafa Orhon vom Verein Grüner Vogel e.V. genau an. Die beiden arbeiten seit vielen Jahren daran, Islamisten aus ihrer Ideologie rauszuholen. Sie sind professionelle Deradikalisierer. Und sie sagen: Brüche in der Biografie können ein Faktor sein, warum Menschen Zuflucht in den einfachen Antworten der Islamisten suchen.

Krisen, die Menschen anfällig für die einfachen Lösungen der Ideologen machen, können persönlich, aber auch sozial sein: eigene Gewalterfahrungen, Verluste von nahen Personen, Ausgrenzung von einer Gemeinschaft, Armut und wenig Bildung. Das löst ein Gefühl der Isolation und Machtlosigkeit aus. Das kann Angst auslösen, aber auch Aggression. Fachleute sprechen von „transformative trigger“.

BRUSSELS JUSTICE ASSIZES TERROR ATTACKS VERDICT
Als Schwerverbrecher auf der Anklagebank: Salah Abdeslam, der islamistische Attentäter, der in Brüssel mehr als 30 Menschen tötete. © picture alliance/dpa/BELGA | Benoit Doppagne

Islamisten suchen nach Menschen mit Problemen. Vor allem nach denjenigen, die mit ihren Problemen nicht klarkommen. „Die Ideologen schaffen Identität durch Hass gegen konstruierte Feinde. Das ist gerade für junge Menschen verführerisch.“ Islamisten wollen „Ungläubige“ töten, sie wollen Frauen unterwerfen, und zugleich einen „Gottesstaat“ aufbauen. Die „Umma“, die globale Gemeinschaft der Muslime, ist ein zentrales Narrativ von Islamisten. Sie sprechen von „Brüdern“ und „Schwestern“. Das inszeniert eine Nähe, eine Zugehörigkeit. Für Menschen in persönlichen Krisen ist das ein Anker, der Halt geben kann.

Was er seit dem 7. Oktober immer wieder höre, sei der Nahost-Konflikt, der Menschen in die Fänge von Radikalen treibe. „Unzweifelhaft wird die Lage in Gaza von Islamisten für Propaganda genutzt und emotionalisiert in Deutschland aufgewachsene Jugendliche mit muslimischem Hintergrund sehr“, sagt Islamwissenschaftler Orhon. Lange spielte die Palästina-Frage für den IS keine Rolle, doch nun nutze die Terrorgruppe ihn für seine Propaganda. In dem Bekennervideo des Solingen-Täters ist die Tat als Rache für das Leid der „muslimischen Geschwister“ proklamiert. Extremisten appellieren an ein Gerechtigkeitsempfinden junger Menschen – und wollen sie doch in das empathielose Töten lenken.

Opfer werden durch Extremisten gezielt abgewertet, Attentate als „Ego-Shooter“ inszeniert

So wird der Feind, bei Islamisten die „Ungläubigen“, in der IS-Propaganda gezielt entmenschlicht. Das soll Gewalt legitimieren und Hemmungen bei jungen Tätern abbauen. Das erleben wir auch in anderen extremistischen Szenen. Der rechtsterroristische Attentäter im neuseeländischen Christchurch inszenierte seinen Angriff auf zwei Moscheen als „Ego-Shooter“-Computerspiel und nahm per Helmkamera das Massaker auf.

Opfer werden durch Extremisten gezielt abgewertet. Der Rechtsterrorist, der in Halle eine Synagoge angriff, erniedrigte Frauen in seinem Tatvideo. Oft sind vor allem junge Männer die radikalen Gewalttäter. Heranwachsende fühlen sich in ihrer Männlichkeit gekränkt. Zugleich merken sie, dass sie die Erwartungen als Mann, die eine Gesellschaft von ihnen erwartet, nicht erfüllen können. Die Islamisten bieten jungen Männern mit der „Scharia“ eine Schablone, in der sie sich mächtig fühlen können und in der Frauen ihnen unterworfen sind. Als der IS riesige Gebiete in Syrien und Irak wie ein Terror-Staat verwaltete, entfaltete das eine enorme Strahlkraft. Bei jungen Menschen löste das eine Allmachtfantasie aus im „Kampf gegen die Ungläubigen“. Es ist der erneute Aufstieg des IS in diesen Regionen, der auch Staatsschützern und Geheimdienstlern in Deutschland aktuell besorgt.

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Was bei jungen Muslimen in Deutschland nach Erkenntnis der Terrorismus-Forschung eine Rolle bei der Radikalisierung spielt, sind Erfahrung von Ausgrenzung und Rassismus. Sie leben einen tristen Alltag in Asylunterkünften, oft allein, oft ohne einen Job. Ein ranghoher Sicherheitsbeamter fasst es im Gespräch mit unserer Redaktion so zusammen: „Dort sitzen Männer mit Männern, viele sind noch jung, es fehlt Familie, es fehlen Frauen, es fehlt Arbeit. Die wetteifern darum, wer der radikalere Islamist ist.“

Geflüchtete erleben Gewalt nicht nur in ihrer Heimat, sondern auch auf der Flucht nach Deutschland. Und doch wird nur ein Bruchteil von ihnen gewalttätig. Mücke von VPN sagt, dass Flüchtlinge in den Beratungsstellen zur Deradikalisierung „eher weniger Thema“ seien. „Wir beraten vor allem radikale Islamisten und deren Familien, die hier aufgewachsen sind, und helfen ihnen beim Ausstieg aus der extremistischen Szene.“

Bundeskanzler Olaf Scholz (M.) bei seinem Besuch am Tatort des Attentats von Solingen.
Bundeskanzler Olaf Scholz (M.) bei seinem Besuch am Tatort des Attentats von Solingen. © dpa | Thomas Banneyer

Das Internet spielt bei der Radikalisierung eine zentrale Rolle. Propagandavideos verbreiten sich schneller, als sie Anbieter von sozialen Netzwerken löschen können. Täter wie Anis Amri wurden über Messengerdienste von Dschihadisten in Nahost bei der Tat angeleitet. Das Netz ist eine Radikalisierungsmaschine, wie die Forscherin Julia Ebner in ihrem Buch beschreibt.

Zugleich aber ist eine „Blitz-Radikalisierung“ durch den Video-Konsum auf Internetplattformen selten. Ein wichtiger Faktor sei in der Regel der direkte Kontakt in die gewaltbereite Islamistenszene, entweder in der realen Welt oder über Chatgruppen im Netz, sagt Kaan Mustafa Orhon von Grüner Vogel e.V. Das hebt auch Thomas Mücke hervor. „Menschen werden selten durch Videos und Chats im Internet allein radikalisiert. Es gab vorher Berührungspunkte zu einer islamistischen Szene, das Internet verstärkt die Ideologie nur.“

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