Moskau. Seit Alexej Nawalnys Tod geraten russische Oppositionsgruppen in Grabenkämpfe. Selbst der Vorwurf von tätlichen Angriffen steht im Raum.
„Ich werde den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen und hier sterben“, schrieb der im Februar im russischen Straflager „Polarwolf“ verstorbene Kremlkritiker Alexej Nawalny in sein Tagebuch. Auszüge davon werden in diesen Tagen posthum als Buch unter dem Titel „Patriot“ veröffentlicht. Nawalnys letzter Tagebucheintrag stammt vom 17. Januar, einen Monat vor seinem Tod. „Das Einzige, was wir fürchten sollten, ist, dass wir unsere Heimat aufgeben, um sie von einer Bande von Lügnern, Dieben und Heuchlern ausplündern zu lassen.“
Nawalny war lange Zeit das prominenteste Gesicht der russischen Opposition. Selbst aus dem Gefängnis heraus gelang es ihm, verschiedene Oppositionsgruppen hinter sich zu versammeln. Doch mit seinem Tod droht auch der Opposition der endgültige Zerfall.
Nawalny: Anhänger und westliche Politiker zweifeln an natürlicher Todesursache
Um Nawalnys Tod, für den seine Anhänger und zahlreiche westliche Politiker den Kreml verantwortlich machen, gibt es dabei immer neue Ungereimtheiten. Der Vorwurf, den das Investigativmedium „The Insider“ andeutet, wiegt schwer. Der Kremlkritiker sei im Straflager keines natürlichen Todes gestorben, wie die russischen Behörden behaupten. Möglicherweise sei er sogar erneut vergiftet worden. Von wem auch immer. Doch handfeste Belege dafür habe man nicht.
Trotzdem ist die „Insider“-Enthüllung spektakulär. Beweist sie doch, dass wesentliche Ermittlungsdokumente zumindest geschönt wurden. „The Insider“ konnte Hunderte zugespielte Dokumente auswerten. Unklar ist, ob diese Dokumente wirklich echt sind, es fehlen etwa offizielle Stempel. Wenn ja, dann deutet die Auswertung nicht auf einen natürlichen Tod Nawalnys hin. So heißt es in einem ersten Untersuchungsbericht, der Häftling hätte erbrochen, über Magenschmerzen geklagt und Krämpfe gehabt. Dann sei er bewusstlos geworden. Das könnten, aber müssen nicht, Symptome einer Vergiftung sein.
Putin-Gegner: Spekulation um wahre Todesursache
Die jetzigen Enthüllungen sind nicht die erste Ungereimtheit in Sachen Nawalnys Todesursache. Unmittelbar nach dem Tod des Kremlkritikers am 16. Februar dieses Jahres sprachen die Gefängnisbehörden davon, Nawalny hätte sich nach einem „Spaziergang“ unwohl gefühlt und anschließend das Bewusstsein verloren. Man habe ihn nicht wiederbeleben können. Der russische Staatssender RT behauptete, der 47-Jährige sei an einem „abgelösten Blutgerinnsel“ gestorben. An einer Thrombose. Dem widersprach postwendend Nawalnys Arzt Alexander Polupan: „Nur eine Obduktion kann eine Thromboembolie nachweisen. Es gibt keine anderen Methoden.“ Die gab es aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Hintergrund: Wurde Nawalny vergiftet? Geheimer Bericht erhärtet Verdacht
Nawalny starb eines „natürlichen Todes“, der nicht „krimineller Natur“ sei, so die offizielle Version. Der „Insider“ weist allerdings darauf hin, dass „Proben des Erbrochenen“ untersucht werden sollten. Diese wurden später nicht mehr erwähnt, auch wurde kein Untersuchungsergebnis bekanntgegeben. Nawalnys Todesursache bleibt ein Rätsel: Unmittelbar nach seinem dem Tod forderten mehr als 40 Staaten eine internationale Untersuchung. Der Kreml lehnte dies ab.
Nach Nawalnys Tod verstrickt sich die russische Opposition, vertrieben ins Exil, immer mehr in Grabenkämpfen. Sie ist tief zerstritten. Zwei Gruppierungen stehen sich unversöhnlich gegenüber: Nawalnys Team und Oppositionelle rund um den Ex-Oligarchen Michail Chodorkowski. Dieser war Vorstandsvorsitzender des ehemaligen Ölkonzerns Yukos. 2004 schätzte das Wirtschaftsmagazin „Forbes“ sein Vermögen auf 15,2 Milliarden US-Dollar. Er stellte sich gegen Russlands Präsident Wladimir Putin, wurde wegen Steuerhinterziehung und Betrugs verurteilt. Nach 10 Jahren im Straflager begnadigte ihn der Kremlchef. Heute lebt Chodorkowski in London und unterstützt von dort aus Teile der russischen Opposition.
Putin-Gegner untereinander zerstritten: Schwerer Verdacht
Jetzt steht ein ungeheuerlicher Verdacht im Raum. Die von Nawalny gegründete Anti-Korruptions-Stiftung ACF beschuldigt den Chodorkowski-Verbündeten Leonid Newslin, Angriffe auf Nawalny-Helfer angeordnet zu haben. Informationen darüber seien dem Nawalny-Team von einem Mittelsmann Newlins zugespielt worden, der seit drei Jahren für ihn arbeiten würde, weiß das Onlinemedium Meduza.
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Es geht um mehrere Attentate auf russische Oppositionelle im Ausland. So griffen Unbekannte den Nawalny-Vertrauten Leonid Wolkow im vergangenen März vor seinem Haus in Litauen mit einem Hammer an. Dabei brach sich Wolkow nach eigenen Angaben einen Arm, sein Bein wurde schwer verletzt. Die Behörden in Litauen waren davon ausgegangen, dass Russland hinter dem Anschlag auf den Putin-Kritiker stecken könnte. In Polen ermittelt nun die Staatsanwaltschaft gegen mutmaßliche Täter.
Angegriffen wurden auch die Nawalny-Verbündeten Iwan Schdanow und Alexandra Petrachkowa, die Ehefrau des im argentinischen Exil lebenden Ökonomen Maxim Mironow, der eng mit Nawalnys Team verbunden ist. Petrachkowa ging mit ihrem 10 Monate alten Sohn in Buenos Aires spazieren, sie wurde ins Gesicht geschlagen und aufgefordert, „sich von Russland fernzuhalten“.
„Frauen mit Kinderwagen zu schlagen, ist meiner Ansicht nach einfach zu viel“, zitiert Meduza den Informanten, der Newslin und Chodorkowski beschuldigte. Beide weisen die Anschuldigungen als falsch zurück. Wenn die Nawalny-Anhänger ihm etwas vorzuwerfen hätten, sollten sie vor Gericht ziehen und nicht seinen Ruf beschädigen, erklärte Chodorkowski. Die russische Opposition im Exil ist in heller Aufregung. Iwan Schdanow bringt es auf den Punkt. „Jedes Mal, wenn in Zukunft ein Anschlag verübt wird, werden sich die Leute fragen, ob Putin, der russische Geheimdienst oder eine Figur der Opposition dahintersteckt.“
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