Charkiw. In der Stadt an der russischen Grenze hat die Ukraine den Vormarsch der Russen Richtung Charkiw gestoppt. Der Preis dafür ist hoch.
Die alte Frau schluchzt, ihre Stimme zittert. „Wir haben 52 Jahre in Wowtschansk gelebt. Jetzt ist uns nichts mehr geblieben.“ Kapitolina Oleksandrivna wischt sich die Tränen weg und faltet die Hände vor ihrem Gesicht. Sie sitzt auf einer Bank im Garten eines Bauernhauses in Staryj Saltiw. Ihre Heimatstadt liegt einige Kilometer nördlich. Manchmal weht das Grollen der Schlacht herüber, in der Wowtschansk gerade untergeht. In der Stadt an der russischen Grenze haben die ukrainischen Verteidiger den Vormarsch der Truppen Moskaus Richtung Charkiw aufgehalten. Es ist einer der wenigen militärischen Erfolge der Ukraine in diesem Jahr. Der Preis dafür ist aber hoch.
Staryj Saltiw ist ein Dorf an der Landstraße T2104, einige Kilometer östlich der Millionenstadt Charkiw. Früher sind hier im Sommer viele Touristen hingekommen, Ukrainer und Russen. Das Dorf liegt am Ufer des Petschenihy-Stausees, der bei Anglern beliebt ist. In der Gegend gibt es viele Ferienanlagen. Heute sind nur noch wenige der Einwohner geblieben. In den Gebäuden klaffen Einschlaglöcher von Schrapnellen. Die Kirche im Zentrum ist im Sommer 2022 zerstört worden. Handwerker aus Charkiw bauen sie gerade wieder auf, das Gerüst der Hauptkuppel ist bereits fertig gezimmert.
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Touristen kommen nicht mehr nach Staryj Saltiw. Der Krieg ist hier zu nah. Vor den kleinen Läden gegenüber der Kirche stehen Soldaten, rauchen und trinken Kaffee. Andere schleppen Paletten mit Konserven und Energydrinks zu ihren ramponierten Autos. Die Männer sehen müde und erschöpft aus. Unter einem Wellblechdach neben einem Café sitzt ein junger Polizist aus Wowtschansk. Er berichtet über die Lage in seiner Stadt, will aber nicht, dass sein Name genannt wird. „Unsere Soldaten halten die Russen auf. Die Situation ist aber sehr schwierig. Es gibt heftige Straßenkämpfe.“
Polizist: „Die russischen Drohnen machen Jagd auf uns“
Wowtschansk wurde direkt nach dem Beginn des russischen Überfalls im Februar 2022 besetzt. Ein halbes Jahr später konnten ukrainische Truppen die Stadt befreien. Am 10. Mai starteten die Russen eine neue Offensive in der Region. Das ukrainische Oberkommando schickte daraufhin mehrere Brigaden als Verstärkung in den Nordosten, um den Vormarsch aufzuhalten. Charkiw sollte nicht wie vor zwei Jahren von der russischen Artillerie bedroht werden können. Es gelingt nach wenigen Tagen, die Offensive zu stoppen. Die Russen versuchen aber weiterhin mit aller Gewalt, Wowtschansk erneut einzunehmen.
Die russischen Streitkräfte attackieren die Stadt täglich mit Dutzenden Gleitbomben, erzählt der Polizist. Das sind Hunderte Kilo schwere Bomben, die über eine Distanz von bis zu 70 Kilometern ins Ziel gesteuert werden können. Sie können Wohnblocks pulverisieren. „An einem Tag steht da ein neunstöckiges Gebäude, am nächsten Tag nichts mehr. Es ist die totale Vernichtung.“ Die Hälfte aller Gebäude in Wowtschansk sei komplett zerstört, fast alle anderen beschädigt. Er vermeidet es, in die Stadt zu fahren. „Die russischen Drohnen machen Jagd auf uns. Es ist extrem gefährlich.“
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Vor zwei Wochen holten aber zwei seiner Kollegen eine Familie aus der Stadt, die dort zuvor tagelang verzweifelt in einem Keller ausgeharrt hatte. „Manchmal muss man das Risiko eingehen.“ Noch immer sollen bis zu 100 Zivilisten in der Ruinenlandschaft sein. Früher lebten in Wowtschansk etwa 20.000 Menschen. Nach dem Beginn der russischen Offensive im Mai sind bei den Kämpfen mindestens 200 Zivilisten gestorben, schätzt der Polizist. Wahrscheinlich seien es mehr. „Wir haben viele Bitten um Hilfe aus dem Norden der Stadt erhalten.“ Im Norden sitzen die Russen. „Niemand weiß, wie die Situation dort ist und wie es den Leuten geht.“
Wowtschansk: früher 20.000 Einwohner, heute noch 100
Kapitolina Oleksandrivna hat den Horror von Wowtschansk mit ihrem Ehemann überlebt. Jetzt wohnen die beiden in Staryj Saltiw in einem Haus an einer staubigen Feldstraße. Es gehört den Eltern ihrer Schwiegertochter, die nach Charkiw geflohen sind. „Wowtschansk war eine wunderschöne und grüne Stadt. Wir hatten ein sehr gutes Leben“, erzählt die 74-Jährige weinend. Die Entscheidung, ihre Stadt zu verlassen, ist ihnen deshalb nicht leichtgefallen. Sie waren trotz der Kämpfe im Jahr 2022 und trotz der Bombardierungen in der Zeit danach geblieben, anders als der Großteil der anderen Einwohner.
Im Januar erleidet ihr Mann einen schweren Schlaganfall. Im Mai bricht der Krieg dann mit aller Gewalt über Wowtschansk herein. Am 13. Juni trifft eine Bombe ihr Haus, zwei Tage später explodiert ein weiteres Geschoss in der Nachbarschaft und vernichtet sieben Häuser. „Wir haben versucht, Helfer zu erreichen, aber das hat nicht funktioniert.“ Schließlich leihen sie sich ein Auto und schaffen es aus der Stadt heraus. „Wir wollen irgendwann zurückkehren. Aber alles ist zerstört.“ Oleksandrivna schüttelt ihren Kopf, als wollte sie aus dem Albtraum aufwachen.
In einem verlassenen Dorf in der Nähe von Wowtschansk versuchen Dmytro und Oleksiy in einem Bauernhaus zur Ruhe zu kommen. Die beiden Soldaten waren noch vor drei Tagen in der Stadt. Beide wirken völlig ausgelaugt. Sie stammen aus Wowtschansk, sind dort aufgewachsen. Beide sind 43 Jahre alt, beide haben im gleichen Wohnblock gelebt. Kennengelernt haben sie sich aber erst, als sie sich zum Beginn des russischen Überfalls freiwillig zum Armeedienst meldeten.
Wichtigster Vorteil für die Russen: Sie beherrschen den Luftraum
Die beiden Männer waren in vielen Schlachten. Jetzt kämpfen sie seit mehr als zwei Monaten in ihrer Heimatstadt. Die Situation sei extrem. „Die Russen bombardieren durchgehend, rennen ständig gegen unsere Positionen an. Wenn wir ein Haus befreit haben, kommen sie mit mehr Männern zurück.“ Wie in Awdijiwka, Bachmut oder Tschassiw Jar versuchen die Russen ohne Rücksicht auf eigene Verluste Geländegewinne zu erzielen. Auch die Verluste auf ukrainischer Seite sollen hoch sein.
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Weil die Straßenkämpfe so hart sind, werden die ukrainischen Soldaten üblicherweise nach vier Tagen abgezogen, damit sie sich für einige Tage ausruhen können. „Die Straße zu unseren Positionen ist aber ständig unter Feuer, es ist schwierig, da durchzukommen.“ Russische Drohnen attackieren unentwegt, manchmal legen sie Minen. Lebend rein- und wieder herauszukommen, ist Glückssache. „Heute ist wieder ein Soldat aus unserer Einheit gefallen.“
Plötzlich peitschen ganz in der Nähe Schüsse. Dmytro winkt müde ab. „Kein Problem. Das ist unsere Luftabwehr.“ Wichtigster Vorteil für die Russen, sagen beide Männer, sei es, dass sie den Luftraum beherrschen und nahezu ungestört ihre Gleitbomben einsetzen können. Es sind diese Bomben, die die Schlacht um Wowtschansk noch furchterregender als die Kämpfe machen, die sie bislang ausgefochten haben. Dmytro und Oleksiy hoffen deswegen auf den Einsatz der westlichen F16-Kampfflugzeuge, die den russischen Maschinen vielleicht etwas entgegensetzen können. „Die können Charkiw retten.“
Sie würden, sagen beide, alles tun, um die Russen aus Wowtschansk zu vertreiben. Aber ob sie dort wieder leben wollen? Dmytro zuckt resignierend mit den Schultern. „Die Stadt ist völlig zerstört, wir haben nichts, wohin wir zurückkehren können.“
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