Hamburg. Die SPD und der Koalitionspartner sind beim Corona-Ausweg uneins – das zelebrieren die Grünen zunehmend öffentlich.

Es ist erst zehn Tage her, dass der Hamburger Senat mal wieder eine Corona-Verordnung beschlossen und vorgestellt hat. „Sehr einvernehmlich“ sei das geschehen, betonte seinerzeit die Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank und hob im Beisein des Ersten Bürgermeisters Peter Tschentscher (SPD) hervor, dass man „als gesamter Senat, als rot-grüne Koalition“ handele.

Diese Harmonie war keineswegs gespielt, tatsächlich waren in Sachen Corona bislang keine größeren Dissonanzen aus dem Senat zu vernehmen – Betonung auf Senat. Denn seit dieser Woche ist klar, dass es bei Rot-Grün sehr wohl Differenzen bei diesem Thema gibt. Es war ein Abendblatt-Interview mit Dominik Lorenzen, neben Jennifer Jasberg Fraktionschef der Grünen in der Bürgerschaft, das aufhorchen ließ. Zwar griff er den Koalitionspartner dort nicht direkt an, aber er nahm eine ganze Reihe von Positionen ein, die auf sozialdemokratischer Seite so nicht vertreten werden.

Lorenzen: Politik trägt Schuld an hohen Infektionszahlen

Beispiel eins: Auf die Frage, wer Schuld an den immer noch viel zu hohen Infektionszahlen habe, die Bürger oder die Politik, sagte Lorenzen: „Eindeutig die Politik, die zu spät reagiert hat. Bürgerschelte ist fehl am Platz.“ Das ist insofern bemerkenswert, als sowohl vom Bürgermeister als auch von Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) und SPD-Fraktionschef Dirk Kienscherf sowie von Senatssprecher Marcel Schweitzer immer wieder beklagt wurde, dass auch das individuelle Fehlverhalten einer Minderheit das Eindämmen der Pandemie erschwere.

Stichworte waren etwa „Glühwein-Strich“ und Partys in Kellerclubs. Und auch wenn Tschentscher den Bürgern zuletzt mehrfach herzlich dankte, dass sie ihren Beitrag zum Sinken der Fallzahlen beitragen, wird die Realität im Rathaus doch noch zur Kenntnis genommen. Und die ist halt: Einige haben den Schuss immer noch nicht gehört.

Lorenzen hält Beschränkungen für nicht ausreichend

Warum Lorenzen das so kategorisch beiseiteschiebt? Auf SPD-Seite wird vermutet, dass da jemand eine „Duftmarke“ setzen wollte. Tatsächlich ist auf grüner Seite nicht nur der Fraktionschef der Meinung, dass etwas mehr Selbstkritik den Verantwortlichen, das sind beim Thema Corona in Hamburg halt vorwiegend SPD-Politiker, gutstehen würde, etwa hinsichtlich des gescheiterten Versuchs, das Virus aus den Heimen herauszuhalten.

Beispiel zwei: Auf die Frage, ob die jetzigen Beschränkungen ausreichen, sagte Lorenzen: „Nein.“ Denn man mache „prinzipiell erst einmal weiter so“ und schärfe nur ein bisschen nach: „Das ist die falsche Botschaft.“ Wohlgemerkt: Das bezog sich auf genau die Maßnahmen, die der Bürgermeister und die Zweite Bürgermeisterin seiner Partei wenige Tage zuvor vorgestellt und sich zu eigen gemacht hatten. Davon, dass es eigentlich viel schärfer hätte ausfallen müssen, war keine Rede, im Gegenteil. Im Bewusstsein um die Zumutungen für die Bürger warben Tschentscher und Fegebank um Akzeptanz für die Beschlüsse.

Uneinigkeit bei Frage nach Exit-Strategie

Am offensichtlichsten ist der Dissens in der Frage nach einer Exit-Strategie: „Wir Grüne fordern schon seit Monaten differenzierte Stufenpläne für Bereiche wie Schule, Wirtschaft und Freizeit“, sagte Lorenzen im Interview. Grundschulen, so sein Vorschlag, könnten etwa bis zu einem Inzidenz-Wert von 50 komplett geöffnet bleiben. „Bei 100 würde man vielleicht einen Wechsel-Unterricht oder reinen Fernunterricht vorschreiben.“

Der Bürgermeister und sein Umfeld halten einen solchen Stufenplan zwar grundsätzlich auch für wünschenswert, aber derzeit für völlig unrealistisch. Schon die Debatte darüber wecke zum jetzigen Zeitpunkt Erwartungen bei den Bürgern, die man kaum werde einhalten können, heißt es. Der Grund sei schlicht die große Unsicherheit über die aus Großbritannien eingewanderte Mutation des Virus: Wie viel ansteckender sie wirklich sei, ob sie bei jungen Menschen für schwerere Verläufe sorge und wie verbreitet sie in Hamburg schon ist – darüber wisse man halt noch viel zu wenig.

Günther wirft Stufenplan in den Raum

Im Laufe der Woche trat dieser Dissens immer klarer zutage: Nachdem Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) und sein Kabinett am Dienstag mit einem Vorschlag für einen Stufenplan vorgeprescht waren und damit die eigens dafür von Bund und Ländern eingesetzte Arbeitsgruppe düpiert hatten, lobte der Grünen-Fraktionschef diesen Vorstoß am Mittwoch in der Bürgerschaft als „diskussionswürdig“. Mehr noch, parallel veröffentlichte seine Fraktion eine Pressemitteilung mit der Überschrift: „Lorenzen: Wir brauchen endlich einen verlässlichen Stufenplan.“

Nun ging es endgültig drunter und drüber. CDU-Fraktionschef Dennis Thering brandmarkte den Vorstoß seines Kieler Parteifreundes Günther als „falsche Politik“ – und bekam Applaus via Twitter von SPD-Fraktionschef Kienscherf: Therings Kritik „an dem Pseudo-Stufenplan von MP Daniel Günther und der CDU-Grüne-FDP-Koalition ist berechtigt. Die MPK hatte gemeinsam ein anderes Vorgehen vereinbart.“ Lorenzen hielt weiter dagegen: „Da haben wir ja ein super Thema für die nächste MPK“, zwitscherte er. Fast konnte man den Eindruck gewinnen, die Grünen seien auch in Hamburg in der Opposition zu einer Großen Koalition.

Tschen­tscher von Durchsetzung der Mutation überzeugt

Am Mittwochabend schaltete sich auch der Bürgermeister in die Debatte ein: „Einen Automatismus für die Aufhebung von Einschränkungen sollte es nicht geben“, wies er in einer Erklärung die Forderungen nach einem Stufenplan zurück. „Zunächst müssen wir einen Überblick über das Auftreten neuer Virusmutationen und eine fundierte Einschätzung zu ihren Auswirkungen auf die Infektionsdynamik haben“, so Tschen­tscher. Als gelernter Labormediziner, der beim Thema Corona das Gras mitunter etwas schneller wachsen hört als andere Politiker, ist er überzeugt, dass die ansteckendere Mutation sich durchsetzen wird.

An dieser Stelle muss man sehr genau hinschauen: Auch Lorenzen und andere Grüne sind in großer Sorge wegen der Mutationen, daher drängen sie zum Teil auf noch härtere Maßnahmen. Es geht ihnen auch nicht darum, bald Beschränkungen zu lockern. Sondern sie wollen, ganz nach Maßgabe von Parteichef Robert Habeck, lieber heute als morgen über diese Wenn-dann-Szenarien diskutieren. Man müsse den Menschen „eine Perspektive aus dieser schwierigen und belastenden Situation aufzeigen“, ist Lorenzen überzeugt. Die SPD hält den Zeitpunkt für falsch.

Grünen zeigen Uneinigkeit mit SPD öffentlich

Die politisch brisante Frage ist: Was treibt die Grünen, diese Uneinigkeit so öffentlich zu zelebrieren? Der Versuch, erst mal koalitionsintern eine gemeinsame Haltung dazu zu finden, sei jedenfalls nicht unternommen worden, beteuern Sozialdemokraten. Sie beobachten schon länger, dass die neue und seit der Wahl doppelt so große Fraktion der Grünen deutlich aufmüpfiger agiere als ihre Vorgänger. Zu Zeiten der Fraktionschefs Andreas Dressel (SPD) und Anjes Tjarks (Grüne), die viele Jahre als „A-Team“ jeden Konflikt schon im Ansatz wegmoderiert haben und jetzt als Finanz- und Verkehrssenator agieren, wäre das vermutlich anders gelaufen.

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Dass es Druck von der Basis gibt, das gestiegene Gewicht häufiger mal sichtbar in die Waagschale zu werfen, bestreiten selbst Spitzengrüne gar nicht. Mit Lorenzen, der als Unternehmer einst den „Rebellen“ angehörte, die die alte Handelskammer-Führung vom Hof gejagt haben, und der nicht minder selbstbewussten Jennifer Jasberg haben die Grünen zudem ein durchaus konfliktfreudiges Duo an der Fraktionsspitze. Da auch ihr SPD-Pendant Dirk Kienscherf ein eher kantigerer Politikertypus ist, steht das aus früheren Zeiten gewohnte Streben nach Konsens bei Rot-Grün nicht mehr so weit oben auf der Agenda.

Streit sei das aber nicht, betonen beide Seiten. Man sei halt in diesem Punkt nicht einer Meinung. Um irgendwann einen Ausweg aus der Pandemie aufzeigen zu können, was ja beide wollen, wird man sich allerdings einigen müssen. Die spannende Frage ist: Wann wird das sein?