Grünen-Fraktionschef Dominik Lorenzen fordert deutlich härtere Corona-Regeln. Die Politik trage große Mitschuld an der Situation.

Um das Infektionsgeschehen in den Griff zu bekommen, sei eine Verschärfung der Corona-Regeln nötig, sagt der Hamburger Grünen-Fraktionschef Dominik Lorenzen. Er hatte sich in der Bürgerschaft zuletzt ungewöhnlich selbstkritisch gezeigt. Im Interview mit dem Abendblatt spricht der 43 Jahre alte Unternehmer über Irrtum und Ehrlichkeit in der Politik, Stufenpläne für künftige Beschränkungen und die bedenkliche Sorglosigkeit in manchen Unternehmen.

Hamburger Abendblatt: „Wir haben die Corona-Lage im Herbst unterschätzt“, erklärten Sie vor Kurzem in der Bürgerschaft. Lässt dieses Eingeständnis Sie nicht in der Gunst der Wähler sinken?

Dominik Lorenzen: Ich glaube nicht. Vielmehr bin ich der Meinung, dass die Erwartungshaltung vorherrscht, dass Politiker Fehler zugeben – denn sonst verlieren sie ihre Glaubwürdigkeit. Wer immer darauf beharrt, dass alles richtig war, quält auch sein Gegenüber, weil es früher oder später offensichtlich wird, dass Dinge eben nicht immer richtig laufen. Natürlich gibt es Stimmen, die sagen: Wie kannst Du nur Fehler zugeben, das ist Schwäche. Ich halte das eher für ein Zeichen von Stärke.

Hätten Sie sich Selbstkritik zum Corona-Management auch von Ihrem Koalitionspartner SPD gewünscht?

Die SPD ist nicht weniger selbstkritisch als wir. Es gibt bei unserem Koalitionspartner sehr viele kluge Köpfe, die sich permanent an wissenschaftlichen Fakten orientieren. Wir haben mit Peter Tschentscher einen Bürgermeister, der durch seinen medizinischen Hintergrund immer wieder Dinge neu einordnet und zu neuen Erkenntnissen kommt.

Virologen warnten schon früh, Corona nicht zu unterschätzen und die Pandemie für vorzeitig beendet zu erklären – gerade mit Blick auf den Herbst und den Winter. Warum musste es trotzdem zu einem zweiten harten Lockdown kommen?

Ich glaube, es war ein Fehler, die Eindämmungsverordnung so stark an der Inzidenz – also der Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen – auszurichten. Es wäre besser gewesen, sich stärker am R-Wert zu orientieren, also der Reproduktionszahl, die angibt, wie viele Menschen ein Corona-Infizierter in einem bestimmten Zeitraum im Durchschnitt ansteckt. Diese Zahl zeigt uns sehr früh, wenn das Infektionsgeschehen wieder eskaliert. Liegt der Wert unter 1, steckt ein Infizierter im Schnitt weniger als einen anderen Menschen an – es droht keine Eskalation. Wir haben zu spät erkannt, dass der R-Wert schon wieder hochgeschnellt war und es zu einem exponentiellen Wachstum kam. Das Problem, mit dem wir zu kämpfen haben: Wöchentlich erhalten wir neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Analysen. Das ist für alle politischen Akteure eine große Herausforderung.

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Wer hatte Schuld an den hohen Inzidenzen im Herbst und im Winter: Die Bürger, die sich nicht an die Regeln halten? Oder die Politik, die die falschen Regeln aufstellt hat?

Eindeutig die Politik, die zu spät reagiert hat. Bürgerschelte ist fehl am Platz.

Gescheitert ist etwa der Vorsatz, die Pflegeheime zu schützen. Die meisten Corona-Toten bisher sind über 70 Jahre alt gewesen.

Man hätte mit dem Argument, dass ältere Menschen in Pflegeheimen besonders gefährdet sind, diese Einrichtungen komplett isolieren können. Es wäre allerdings nur schwer umsetzbar gewesen, weil es eine außergewöhnliche soziale Härte bedeutet hätte. Die Pflegeheime sind im Laufe der Pandemie bundesweit immer besser geschützt worden. Beim Thema Testen können und müssen wir allerdings noch deutlich besser werden.

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Die Corona-Auflagen wurden bereits erneut verschärft. Reichen die jüngsten Maßnahmen in Hamburg aus, um das Infektionsgeschehen hier in den Griff zu bekommen?

Nein. Die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) ist nicht weit genug gesprungen. Der jüngste Beschluss bedeutet: Wir machen prinzipiell erst einmal weiter so und schärfen nur ein bisschen nach. Das ist die falsche Botschaft. Das Signal an die Bevölkerung hätte sein müssen – und da bin ich sehr nah bei der Bundeskanzlerin: Es kommt noch einmal eine sehr harte Phase, bis es zum Sommer hin besser wird. Jetzt fehlen Impfdosen. Später wird uns Personal zum Impfen fehlen. Und irgendwann fehlen die Leute, die sich impfen lassen wollen. All das ist absehbar. Zuletzt haben wir den Moment verpasst, eine deutliche Verschärfung hinzubekommen. Ich hätte mir mehr gewünscht.

In Hamburg…

… haben wir uns immer an die MPK-Beschlüsse gehalten. Zwischen den Grünen und roten Akteuren gibt es dazu einen breiten Konsens. Bei uns haben alle verstanden, wie gefährlich die ansteckendere Corona-Variante aus Großbritannien ist. Wenn die Zahlen aus Dänemark, Irland und England auch nur halbwegs stimmen, steht uns ein schlimmes Frühjahr bevor.

Für welche zusätzlichen Beschränkungen plädieren Sie?

Es sollte vorgeschrieben werden, dass sich jeder Haushalt nur noch mit einer festen Kontaktperson aus einem anderen Haushalt treffen darf. Das würde ausschließen, dass man etwa fünf Mal pro Tag mit mehreren Einzelpersonen zusammenkommen kann. Für Familien braucht man andere Regelungen: Kinder unter sechs können sich naturgemäß nicht ohne Begleitung treffen. Alleinerziehende sollten mindestens eine weitere Familie treffen dürfen.

Parteiübergreifend werden die Rufe immer lauter, Stufenpläne zu entwickeln, mit denen Beschränkungen an bestimmte Inzidenzen gekoppelt werden. Was halten Sie davon?

Wir Grüne fordern schon seit Monaten differenzierte Stufenpläne für Bereiche wie Schule, Wirtschaft und Freizeit. Grundschulen könnten etwa bis zu einem Inzidenz-Wert von 50 komplett geöffnet bleiben, weil der Präsenzunterricht hier besonders wichtig ist. Bei 100 würde man vielleicht einen Wechsel-Unterricht oder reinen Fernunterricht vorschreiben. Für Berufsschulen hingegen halte ich reinen Distanzunterricht schon ab einer Inzidenz von 50 für vertretbar. Über die Details und die Frage der Zumutbarkeit brauchen wir eine Debatte.

Werden die Parlamente genügend berücksichtigt?

Nein, wir brauchen ein anderes Vorgehen. Die Ministerpräsidentenkonferenz kommt mir vor wie eine Wundertüte: Keiner weiß, wer was wie wo verhandelt hat. Dieses System ist demokratisch gesehen langsam nicht mehr tragfähig. Da wird kurzfristig etwas entschieden und dann bundesweit in Eindämmungsverordnungen gegossen. Besser wäre es, wenn Stufenpläne auf parlamentarischer Ebene gesetzlich geregelt werden. Die MPK ist ein Beratungsgremium, kein Beschlussgremium. Dort sollte das Handeln der Bundesländer und des Bundes koordiniert werden. Im Übrigen: Wenn es langfristige Corona-Pläne gäbe, könnte die Politik sich auf eine gute Umsetzung der Maßnahmen konzentrieren. Wir müssen herauskommen aus dem Vorgehen, dass alle paar Wochen Krisentreffen stattfinden und so getan wird, als ob Corona vor zwei Wochen begonnen hätte.

Die Politik hat schon länger an die Wirtschaft appelliert, mehr Homeoffice zu ermöglichen. Jetzt soll eine Rechtsverordnung des Bundes dafür sorgen, dass Arbeitgeber Heimarbeit anbieten müssen. Genügt das?

Ich begrüße diese Verordnung, aber sie muss nachgeschärft werden. Wenn Homeoffice nicht umsetzbar ist, müssen verbindliche Hygienekonzepte her, die stichprobenartig kontrolliert werden. Bei Nichteinhaltung stehen gepfefferte Bußgelder an. Wichtig ist auch, dass wir das Problembewusstsein für Schutzmaßnahmen in Unternehmen schärfen: Ich habe vor Kurzem einen Handwerksbetrieb erlebt, für den existiert Corona quasi nicht. Die Mitarbeiter trugen keine Masken, arbeiteten normal. An solche Betriebe müssen wir dringend ran.

Gibt die Politik bei den Corona-Regeln dem Druck der Wirtschaft zu sehr nach?

Die Arbeitsbedingungen in den Betrieben sind sehr unterschiedlich. Es gab mit Blick auf stärkere Beschränkungen und eine Home-Office-Pflicht die Sorge, zu einer Überregulierung zu kommen. Deshalb hat sich die Politik damit schwergetan. Es ist ein sehr sensibles Feld. Wir müssen die Betriebsfähigkeit der Wirtschaft sicherstellen. Es wird immer wieder von Grundrechtseinschränkungen gesprochen, wenn es um soziale Kontakte geht. Aber: Der schwerste Grundrechtseingriff, den wir seit Beginn der Pandemie vornehmen, besteht darin, Menschen ihr Recht auf Existenzsicherung einzuschränken. Das betrifft Selbstständige ebenso wie Angestellte in Kurzarbeit.

Der harte Lockdown ist bis zum 14. Februar verlängert worden. Wie könnte es danach weitergehen?

Es sollte niemand damit rechnen, dass es wesentliche Lockerungen bei den Corona-Beschränkungen geben wird. Ich vermute, dass wir bis Ende März eher schärfere Eindämmungsverordnungen bekommen werden. Dann könnte der R-Wert, also die Ansteckungsrate, deutlich unter 1 sinken, mutierte Viren könnten gar nicht erst dominant werden und wir würden mit den Impfungen gerade so hinkommen. Dieses Szenario ist unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Das gegenteilige Szenario könnte eine Zunahme des Infektionsgeschehens sein, die man als dritte Welle bezeichnen würde. Wir sollten auf eine Verschlechterung vorbereitet sein.

Wie zufrieden sind Sie mit den Corona-Impfungen in Hamburg?

Mein Eindruck ist, dass wir als Großstadt eine vernünftige Impfquote hinbekommen. Unser Ansatz, ein zentrales hochleistungsfähiges Impfzentrum zu nutzen, ist der richtig Weg. Alle maßgeblichen Probleme, die es in Hamburg bisher gab, sind auf die unzureichende Verfügbarkeit von Impfdosen zurückzuführen.

Ist es ein Problem für die Grünen, dass ihre Senatoren bei der Corona-Politik im Schatten der SPD-Senatoren und des Bürgermeisters stehen?

Ich schlage vor, Sie stellen diese Frage erneut in einem Jahr. Wenn die Bekämpfung der Pandemie so erfolgreich läuft, wie ich es uns allen wünsche, wäre es nur strategisch betrachtet ein Problem. Wenn es nicht gut läuft, stehen immer diejenigen im Fokus, die in der öffentlichen Wahrnehmung an vorderster Front standen.

Aber warum versuchen die Grünen bei Corona bisher so selten, sichtbar Akzente zu setzen – sind sie mit allem einverstanden?

Unsere grünen Senatoren machen einen sehr guten Job und sind an der Corona-Politik stark beteiligt, etwa über die Justizbehörde bei den Eindämmungsverordnungen. Rot-Grün bildet gemeinsam die Regierung und handelt zusammen. Der Bürgermeister und die Gesundheitssenatorin sprechen immer im Namen beider Parteien.