Hamburg. Wegen der steigenden Zahl der Impfungen verlieren alte Gewissheiten ihre Bedeutung – doch neue lassen auf sich warten.

Nein, dass sich irgendjemand nach diesen Zeiten zurücksehnt, kann man nicht behaupten. Und doch gab es in den ersten Wellen der Corona-Pandemie eine paar Gewissheiten, die den Umgang mit diesem unerfreulichen Phänomen erleichterten.

Steigende Infektionszahlen sind schlecht, lautete die erste Gewissheit. Das lag vor allem daran, dass – Gewissheit Nummer zwei – sich dann mit einer Verzögerung von zwei bis drei Wochen die Krankenhäuser mit Covid-19-Patienten füllten. Wenn man die Infektionsdynamik nicht in den Griff bekommt, würde das – Gewissheit drei – früher oder später zu einer Überlastung des Gesundheitswesens führen. Der Beweis für diesen Punkt war zwar in Deutschland glücklicherweise nicht flächendeckend erbracht worden, aber die Erfahrungen anderer Länder wie Italien waren abschreckend genug.

Corona in Hamburg: Neue Unsicherheit – mit erfreulichem Grund

Im Sommer 2021 funktionieren diese Corona-Leitplanken nicht mehr. Gewiss, die Infektionszahlen steigen wieder, in Hamburg sogar mehr als anderswo in der Republik – Schicksal eines Stadtstaates, der zudem besonders früh Ferien und damit Reisezeit hatte. Doch wie sollten wir auf diese vierte Welle reagieren? Darauf hat derzeit kaum jemand eine konkrete Antwort. „Mal schauen“, sagt offen einer aus dem Regierungsapparat. Die Sozialbehörde will die Lage „tagesaktuell neu bewerten“ – was eine andere Formulierung ist für: abwarten.

Diese neue Unsicherheit hat einen Grund, und zwar einen erfreulichen: Weil mittlerweile mehr als 60 Prozent der Hamburger wenigstens einmal geimpft sind und rund 50 Prozent schon vollständig, ist die Gefahr, dass Corona den Menschen schwer zusetzt, deutlich herabgesetzt. Bei den besonders gefährdeten über 60-Jährigen, unter denen das Virus vor allem in der zweiten Welle furchtbar wütete, liegt die Impfquote sogar bei mehr als 80 Prozent.

Der Segen des kleinen Piks hatte sich schon in der dritten Welle bemerkbar gemacht, als glücklicherweise weniger Menschen schwer erkrankten. Der Chef der Intensivmedizin am UKE, Prof. Stefan Kluge, rechnet im Zuge der vierten Welle daher nicht mit einer „Riesenbelastung“, sagte er dem Abendblatt in dieser Woche.

Vierte Corona-Welle: Einfach zurücklehnen kann nicht die Lösung sein

Für die Politik bedeutet das: Wie bisher mit schrittweisen Beschränkungen für Kontakte, Handel, Gastronomie, Freizeit, Sport und Schulen auf steigende Zahlen zu reagieren kommt zunächst nicht infrage. Denn wo keine konkrete Bedrohung für Leib und Leben nachgewiesen werden kann, würden Gerichte das kaum durchgehen lassen.

Sich zurücklehnen und „mal schauen“, wie die Zahlen steigen, kann die Politik aber auch nicht. Würde sich der Anstieg in Hamburg wie zuletzt fortsetzen mit einer Verdoppelung der Inzidenz alle zwei Wochen, könnten wir in zehn Wochen bei Werten um die 1000 sein. Zum Vergleich: Der bisherige Höchstwert war 179,6 am Heiligabend 2020. Das Fünffache davon könnte die Intensivstationen dann doch wieder schwer belasten.

Und es ist ja auch nicht so, dass sich in den Krankenhäusern überhaupt nichts tut: Die Zahl der Covid-Patienten in Hamburger Kliniken ist in der vergangenen Woche von 28 auf 40 gestiegen. Dabei blieb die Zahl der Intensivpatienten mit zuletzt 16 zwar recht stabil – aber in Wahrheit weiß im Moment niemand, wohin die Entwicklung gehen wird. Auch Kluge sprach von einem „Bauchgefühl“.

Hamburg ringt um eine neue Corona-Strategie

Kurzum: Es braucht eine neue Strategie – und um die wird dieser Tage gerungen, innerhalb Hamburgs, vor allem aber zwischen den Bundesländern und dem Bund. Erstes erkennbares Zeichen: Die für Ende August geplante Ministerpräsidentenkonferenz mit der Kanzlerin findet nun schon am 10. August statt. Schon kommende Woche sollen die Gesundheitsminister der Länder das Treffen vorbereiten.

Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) weilt zwar offiziell im Urlaub, ebenso wie Sozial- und Gesundheitssenatorin Melanie Leonhard (SPD). Doch beide halten laufend Kontakt zu ihren Büros, und mittlerweile zeichnet sich recht deutlich ab, mit welcher Haltung Hamburg in diese Gespräche gehen wird.

Der Inzidenzwert wird an Bedeutung verlieren

Klar ist, dass der Inzidenzwert an Bedeutung verlieren wird. Denn wenn die Kausalität von Infektions- und Krankenhauszahlen nicht mehr verlässlich gegeben ist, kann diese vertraute Kennziffer, die uns täglich um 12 Uhr verrät, wie viele Corona-Infektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen nachgewiesen wurden, auch nicht mehr der wichtigste Maßstab für politisches Handeln sein.

Darüber herrscht im Rathaus Konsens – vom Senat über die Regierungsfraktionen bis hin zur Opposition. Auch in vielen anderen Bundesländern wird diese Ansicht geteilt.

An den Sieben-Tage-Wert sind gesetzliche Vorgaben gekoppelt

Das wirft jedoch ein Problem auf: Denn noch gilt bundesweit das Infektionsschutzgesetz, wonach beispielsweise ab einer Inzidenz von 100 Schulen auf Wechselunterricht mit halber Besetzung umstellen müssen.

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Das will jedoch niemand, allen voran Schulsenator Ties Rabe (SPD) nicht. Wenn also das am Donnerstag beginnende Schuljahr nicht nur eine kurze Freude werden soll, muss das Gesetz schleunigst geändert werden.

Was soll an die Stelle des Inzidenzwerts treten?

Doch was soll an die Stelle des Inzidenzwertes treten? Die einfachste Lösung wäre: höhere Werte. Länder wie Großbritannien und Niederlande zeigen, dass auch Inzidenzen von 300 oder 500 nicht zwingend ein Problem für das Gesundheitswesen sein müssen.

Aus dem Rathaus ist zu hören, dass der Bürgermeister sich diesen Weg vorstellen kann, eventuell ergänzt um einen Impffaktor: So könnten die Infektionszahlen künftig nicht mehr auf alle 1,9 Millionen Hamburger umgerechnet werden, sondern nur auf die stetig kleiner werdende Gruppe der Ungeimpften – das würde automatisch zu höheren Inzidenzen führen, wäre aber aussagekräftiger.

Welche Probleme die Krankenhaus-Auslastung als Corona-Faktor mitbringt

Als möglicher neuer Faktor gilt zudem die Auslastung der Krankenhäuser. Die hat Tschentscher als habilitierter Mediziner, der früher selbst am UKE tätig war, ohnehin ständig im Blick und tauscht sich darüber mit Experten wie Prof. Kluge aus. Daraus einen Parameter für ein Bundesgesetz zu entwickeln wird im Rathaus dennoch skeptisch gesehen.

Denn vor allem aus vielen dünn besiedelten Flächenländern sei bereits der Hinweis gekommen, dass es in vielen Kommunen oder Kreisen gar kein Krankenhaus gebe – oder nur ein kleines ohne geeignete Covid-19-Station. Großstädte wie Hamburg versorgen dagegen oft auch ihr Umland mit. Das macht es schwierig, aus der Klinik-Auslastung einen bundesweit gültigen Gefährdungsgrad für die Bevölkerung abzuleiten.

Auch Schüler impfen? Da sind sich SPD und Grüne nicht einig

In der Frage, mit welchen Beschränkungen man zuerst reagieren würde, wenn die Infektionszahlen zu stark steigen, gibt es ebenfalls noch keine Festlegung. „Lieber Ausgangssperre als Schulen schließen“, hatte Schulsenator Rabe kürzlich klargestellt – und trifft damit wohl den Nerv im Lande.

Die Strategie der Sozialbehörde, die Lage von Tag zu Tag neu zu bewerten, bedeutet also: Solange vor allem Reiserückkehrer das Virus nach Hamburg tragen, muss man nicht innerhalb der Stadt reagieren und zum Beispiel die Gastronomie gängeln. Und wenn sich weiterhin vor allem junge Menschen infizieren, die abends feiern gehen, dann muss man nicht den Handel beschränken. Und schon gar nicht Schulen oder Kitas schließen. Stattdessen soll erst mal nur gezielt interveniert werden.

Tschentscher will zwischen Geimpften und Ungeimpften unterscheiden

Festgelegt hatte sich Tschentscher schon länger, dass bei Beschränkungen künftig zwischen Geimpften und Ungeimpften unterschieden werden sollte. Diese Haltung hat ebenfalls über Hamburg hinaus viele Anhänger bis hin zu CSU-Chef Markus Söder – eine bundesweite Regelung könnte aber am CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet scheitern.

Das könnte auch für den Vorschlag von SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz gelten, für die bislang kostenlosen Schnelltests Geld zu verlangen, sobald alle Menschen die Chance auf eine Impfung hatten – Tests an Schulen und in Betrieben ausgenommen. Aus Tschen­tscher Sicht ist das nur folgerichtig.

CDU will mehr niedrigschwellige Impfangebote – die Grünen auch

Für die Hamburger CDU auch. Deren Fraktionschef Dennis Thering fordert aber, dass im Gegenzug die Impfangebote ausgebaut werden. Dass der Senat bislang zögert, wie in Bremen mit einem Impfmobil von Stadtteil zu Stadtteil zu fahren oder wie Schleswig-Holstein und Niedersachsen auch Schülern im Alter von zwölf bis 15 Jahren aktiv eine Impfung anzubieten, stößt nicht nur in seiner Partei auf Unverständnis, sondern auch bei vielen Grünen.

Es ist einer der wenigen Punkte der Corona-Politik, bei denen sich die Koalition in Hamburg nicht ganz einig ist. Zu echtem Streit hat das zwar bislang nicht geführt – aber darüber wird noch zu reden sein.