Hamburg. Der Schulsenator über den Schulstart in Corona-Zeiten, die umstrittene Anschaffung von Luftfiltern und den Ausbau der Lernförderung.

Knapp zwei Wochen vor Beginn des neuen Schuljahres in Hamburg und angesichts erneut steigender Corona-Infektionszahlen hat Schulsenator Ties Rabe (SPD) vor erneuten Einschränkungen an den Schulen gewarnt.

„Rückblickend muss man sagen, dass es in Deutschland eine ungewöhnliche Härte gegen den Schulunterricht gab und wir viel schneller als viele andere Länder bereit waren, Schulen einzuschränken und zu schließen“, sagt Rabe im Interview.

Schulsenator Rabe: "Lieber Ausgangssperre als Schulen schließen"

Andere Länder seien freundlicher mit Bildung, Kindern und Jugendlichen umgegangen. Frankreich etwa habe monatelang eine Ausgangssperre verhängt, während die Schulen geöffnet blieben. Auf die Frage, ob er es künftig ebenso halten würde, stellte Rabe klar: „Ja, lieber Ausgangssperre als Schulen schließen.“

Die Frage könnte den Senat schneller beschäftigen, als ihm lieb ist. Denn die Infektionszahlen steigen in der Hansestadt bereits seit zwei Wochen stetig an. Am Sonnabend kamen 92 neue Corona-Fälle hinzu, die Sieben-Tage-Inzidenz kletterte auf 24,6. Damit hat sie sich innerhalb von einer Woche fast verdoppelt.

Hält der Trend an, könnte die Stadt nach dem Infektionsschutzgesetz schon in wenigen Wochen gezwungen sein, Eindämmungsmaßnahmen zu ergreifen. Ab einer Inzidenz von 100 müssten die Schulen etwa auf Wechselunterricht umstellen. Die Parameter für mögliche Maßnahmen stünden zwar noch nicht fest, so der Schulsenator.

Grippe für Kinder und Jugendliche gefährlicher als Corona?

Er rate aber, nicht nur auf die Infektionsrate zu schauen, sondern auch darauf, ob infizierte Schülerinnen und Schüler überhaupt schwer erkranken: „Nach wie vor höre ich von Kinder- und Jugendärzten, dass jede normale Grippewelle bei Kindern und Jugendlichen wesentlich schlimmere Auswirkungen hat als Corona.“

Die Impfung von Jugendlichen sehe er daher mit Skepsis – auch weil bislang nicht wissenschaftlich belegt sei, inwiefern Kinder ihre Eltern und Großeltern anstecken können. Zufrieden zeigte sich Rabe mit der Akzeptanz der Lernferien und anderer Programme zum Aufholen pandemiebedingter Rückstände.

Die Mittel für den kostenlosen Nachhilfeunterricht würden jetzt um 50 Prozent erhöht – von 13 auf 20 Millionen Euro. Mit den bestellten 10.000 Luftfiltern für die Klassenräume rechne er noch vor dem Herbst.

Das Interview mit Hamburgs Schulsenator Ties Rabe

Hamburger Abendblatt: Herr Rabe, in wenigen Tagen startet die Schule wieder. Eltern, Schüler und auch Lehrer hoffen, endlich wieder ein normales Schuljahr zu erleben. Sind die Hoffnungen berechtigt?

Ties Rabe: Die Hoffnungen sind berechtigt und sie sind richtig, denn wir brauchen endlich wieder Normalität im Schulsystem. Wir wissen jetzt immer mehr über die tatsächlichen Lernschwierigkeiten und die sozialen Schwierigkeiten, die die Schulschließungen mit sich gebracht haben. Deswegen haben wir uns viel Mühe gegeben mit einem sehr umfassenden Sicherheitskonzept, das aus meiner Sicht bundesweit einzigartig ist.

Wie groß ist Ihre Sorge, dass die vierte Welle der Corona-Pandemie alle Pläne zunichtemacht?

Ties Rabe: Ich mache mir nicht nur Sorgen um die vierte Welle, sondern auch um die Frage, wie wir dieses Mal damit umgehen. Denn rückblickend muss man sagen, dass es in Deutschland eine ungewöhnliche Härte gegen den Schulunterricht gab und wir viel schneller als viele andere Länder bereit waren, Schulen einzuschränken und zu schließen. Andere Länder sind mit Bildung, Kindern und Jugendlichen freundlicher umgegangen.

Welchen anderen Umgang fordern Sie?

Ties Rabe: Wir sollten aus den letzten Monaten lernen, dass die Schulschließungen nur das wirklich allerletzte Mittel sein können. In Frankreich herrschte zum Beispiel monatelang eine Ausgangssperre ab 18 Uhr, während die Schulen geöffnet blieben. Wir in Deutschland sind genau umgekehrt vorgegangen: Wir haben zunächst die Schulen geschlossen und erst als letztes Mittel für kurze Zeit eine Ausgangssperre erlassen. Ich finde, dass wir den Schulen, den Kindern und Familien in den vergangenen Monaten sehr viel zugemutet haben, das sollte nicht so weitergehen.

Also lieber Ausgangssperre als Schulen schließen?

Ties Rabe: Ja, lieber Ausgangssperre als Schulen schließen.

Nun ist es allerdings so, dass sich junge Menschen derzeit überproportional häufig mit dem Virus infizieren. Ist das eine Gefahr für den Präsenzunterricht?

Ties Rabe: Wir dürfen nicht nur auf die Infektionsrate gucken, sondern auch darauf, ob die Schülerinnen und Schüler durch die Infektionen schwer erkranken. Bislang stellen wir fest, dass auch die neuen Virus-Varianten nicht dazu geführt haben. Ganz im Gegenteil: Nach wie vor höre ich von Kinder- und Jugendärzten, dass jede normale Grippewelle bei Kindern und Jugendlichen wesentlich schlimmere Auswirkungen hat als Corona. Auch die neuen Varianten haben daran bisher nichts geändert.

FDP-Chef Christian Lindner schlägt vor, Jugendliche in den Schulen zu impfen. Was halten Sie davon?

Ties Rabe: Diese Impfdiskussion zeigt die Seltsamkeit der Corona-Diskussion in Bezug auf Kinder und Jugendliche. Ein Teil der Gesellschaft wird nicht müde zu behaupten, dass Schulen für die Kinder sehr gefährlich seien und fordert deshalb Impfungen und zahllose Sicherheitsmaßnahmen. Die Fachleute der ständigen Impfkommission raten hingegen nur im Ausnahmefall zu Impfungen, weil sie Corona für Kinder und Jugendliche keineswegs für so gefährlich halten. Anders als Herr Lindner möchte ich mich nicht zum Arzt aufschwingen und behaupten, es besser zu wissen. Ich nehme den Rat der Stiko ernst.

Und was ist mit der Gefahr, dass Kinder und Jugendliche die Infektion in ihre Familien tragen und Eltern und Großeltern anstecken?

Ties Rabe: Es wäre gut gewesen, wenn die Wissenschaft diese für Kinder, Jugendliche und Familien existenziell wichtige Frage einmal untersucht hätte. Niemand weiß, ob es wirklich eine Gefahr ist, dass sich Schulkinder in der Schule infizieren und dann zu Hause ihre Eltern anstecken. Erst kürzlich hat die Berliner Charité dazu zwei Studien veröffentlicht, die zu gegenteiligen Auffassungen kamen. Die eine Studie behauptete, dass infizierte Kinder viele Viren in sich tragen, die andere Studie behauptete, dass die Gefahr einer Übertragung von Corona-Viren durch Kinder und Jugendliche auf andere wesentlich geringer ist als bei Erwachsenen. Es ist schon erstaunlich, dass wir elf Millionen Schülerinnen und Schüler ein Jahr lang immer wieder von den Schulen ferngehalten haben mit einem Argument, das wissenschaftlich bislang nicht belegt ist.

Wird die Inzidenz der einzige Parameter für die Entscheidung über Präsenz-, Wechsel- oder Fernunterricht sein?

Ties Rabe: Bisher war der Inzidenzwert ein verlässlicher Wert, um einschätzen zu können, wie gefährlich die Lage ist. Denn der Inzidenzzahl folgte mit einiger Verzögerung auch die Zahl der Krankenhausaufenthalte und die Zahl der Todesopfer. Durch die Impfung der Risikogruppen ist dieser Mechanismus ein Stück weit aufgebrochen, deshalb kann die Inzidenz allein künftig nicht mehr Leitlinie unseres Handelns sein. Wir müssen auch die Zahl der schweren Krankheitsverläufe in unsere Überlegungen mit einbinden.

Aber noch ist nicht klar, wie die Parameter aussehen werden?

Ties Rabe: Wir betrachten in Hamburg ja schon seit Beginn der Pandemie, wie die Auslastung der Intensivstationen ist und woher die Patienten kommen. Insofern gibt es ein Grundgerüst, um diese Parameter künftig mit einzubeziehen.

Kann man schon sagen, ab welcher Sieben-Tage-Inzidenz oder welcher Auslastung der Krankenhäuser Schulen zum Beispiel in den Wechselunterricht gehen würden?

Ties Rabe: Nein, so eine Festlegung gibt es noch nicht. Aufgrund der immer neuen Virusmutationen sind feste Grenzwerte schwierig.

Grundmaxime müsste doch weiterhin sein, dass das Gesundheitssystem nicht überlastet werden darf, oder?

Ties Rabe: Ja.

Wird es dabei bleiben, dass alle Schülerinnen und Schüler zweimal pro Woche getestet werden?

Ties Rabe: Ja. Ich finde, das klappt ausgezeichnet, und bin sehr dankbar, dass die Schulen und die Kinder und Jugendlichen das so gut managen. Wir setzen auf ein Fünffach-Sicherheitskonzept: Erstens haben wir alle Schul-Beschäftigten geimpft, zweitens darf sich niemand in der Schule aufhalten, der nicht negativ getestet ist – dafür führen wir eine halbe Million Tests pro Woche durch. Drittens gilt in den Gebäuden weiterhin eine Maskenpflicht, viertens bleibt es bei den Lüftungsregeln – alle 20 Minuten findet ein Luftaustausch statt. Und die fünfte und neueste Maßnahme ist die Anschaffung der mobilen Luftfilter. Mit diesem sehr umfassenden Sicherheitskonzept sind wir ganz weit vorn in Deutschland und gehen weit über die Sicherheitsmaßnahmen beim Einkaufen, in der Gastronomie und jedem anderen Lebensbereich hinaus.

Um Infektionen noch zuverlässiger nachweisen zu können, wären zusätzlich gepoolte PCR-Tests an Schulen sinnvoll, sagen Experten. Wird es solche zusätzlichen Tests geben?

Ties Rabe: Wir wollen die sogenannten Lolli-Tests in einem Pilotverfahren ausprobieren und haben gerade die Ausschreibung veröffentlicht, um Angebote zu bekommen.

Wie unterscheidet sich das Verfahren von den Antigen-Tests?

Ties Rabe: Gleich ist, dass die Schülerinnen und Schüler die Tests selbst durchführen können. Neu ist, dass bei den PCR-Lolli-Tests das Ergebnis von Laboren ermittelt werden muss. Die gelutschten Lollis müssen also von Speditionen in den Schulen abgeholt und in die Labore transportiert werden. Das Ergebnis liegt dann naturgemäß nicht nach zehn Minuten vor, sondern erst nach mehreren Stunden. Dafür ist das Ergebnis viel, viel zuverlässiger, und deshalb setze ich große Hoffnungen in dieses Verfahren.

Wie viele Schulen machen mit?

Ties Rabe: In einem ersten Schritt werden sieben Schulen daran beteiligt werden. Danach wollen wir das Verfahren ausweiten.

Zu den Luftfiltern: Fast alle Klassenzimmer sollen bis zu den Herbstferien damit ausgestattet werden. Sie waren lange dagegen. Was hat Sie umgestimmt?

Ties Rabe: Das Bundesumweltamt hatte uns Kultusministerien lange dahingehend beraten, dass das Lüften der bessere Weg ist und dass viele technische Fragen rund um die Luftfilteranlagen noch nicht gelöst seien. In den letzten Wochen hat das Amt mehrfach neue Stellungnahmen veröffentlicht und ist schrittweise von dieser Ablehnung abgerückt. In der Folge hat auch die Bundesregierung die Anschaffung dieser Geräte gefordert und ein erstes, wenn auch noch sehr geiziges Förderprogramm aufgelegt. Daher wird Hamburg jetzt viele tausend Luftfilter beschaffen.

Es geht um 10.000 Geräte, die angeschafft werden sollen. Wie realistisch ist es, dass alle bis zu den Herbstferien geliefert werden?

Ties Rabe: Wir haben bereits vor vier Wochen begonnen, diese Ausschreibung vorzubereiten, und sind ganz zuversichtlich, dass es gelingt, zwischen den Sommer- und Herbstferien alle Geräte zu bekommen. Ich glaube, wir sind ein Stück schneller als die anderen Bundesländer und deshalb weit vor der großen Bestell-Welle, die kommt, wenn jetzt auch andere Länder Luftfiltergeräte bestellen.

Sie wirken nach wie vor nicht sehr überzeugt. Mal andersherum gefragt: Darf ein Senator eine Entscheidung treffen, die ja 20 bis 30 Millionen Euro kostet, ohne davon überzeugt zu sein?

Ties Rabe: Jeder Schultag in Hamburg kostet die Steuerzahler rund zwölf Millionen Euro. Wenn es mit den Luftfiltern gelingt, die Schulen auch nur drei Tage vor einer Schließung zu bewahren, hat sich die Investition ausgezahlt. Es ist ja nicht ausgeschlossen, dass die Geräte durchaus nützen können. Ich war zudem nicht grundsätzlich dagegen, sondern habe mich auf das Expertenurteil verlassen und immer gesagt, dass wir in den Schulen im Vergleich zu Einzelhandel oder Gastronomie schon ohnehin viel mehr Sicherheitsmaßnahmen haben.

Das Abitur ist in diesem Jahr besser ausgefallen als in den Vorjahren. In Mathe liegt der Durchschnitt sogar fast um eine halbe Note besser als 2020. Nur ein Corona-Bonus oder gibt es auch andere Gründe?

Ties Rabe: Es hängt wohl überwiegend damit zusammen, dass die Lehrkräfte in der Bewertungspraxis versucht haben, die besonders schwierige Vorbereitungssituation zu berücksichtigen. Sie haben vermutlich nicht so hart zensiert, wie es in der Vergangenheit bisweilen der Fall gewesen ist. Klare Hinweise bekommen wir erst, wenn wir sehr genau einzelne Aufgaben aufgearbeitet haben. Das wird noch Monate dauern.

Wie sieht es mit dem ersten und zweiten Bildungsabschluss aus, also dem Haupt- und Realschulabschluss?

Ties Rabe: Der erste und der mittlere Schulabschluss sind im vergangenen Jahr schlechter ausgefallen und jetzt wieder auf dem Vor-Corona-Niveau angekommen. Hier sind die Verbesserungen nicht so stark wie beim Abitur, das ungewöhnlich viel besser ausgefallen ist.

Die Zahl der freiwilligen Klassenwiederholungen ist trotz eines ausdrücklichen Angebots erstaunlich niedrig geblieben. Waren die Defizite vielleicht doch nicht so groß wie von vielen befürchtet?

Ties Rabe: Der Wunsch nach einer freiwilligen Wiederholung war nicht so groß, wie von einigen vorher angenommen. Die Zahlen sind nur um etwa 20 Prozent gestiegen. Ich bin darüber nicht unglücklich. Denn es ist ja eine gute Nachricht, wenn die meisten Schüler sagen: Ich schaffe das! Die meisten Schülerinnen und Schüler haben realistisch bewertet, ob das Sitzenbleiben wirklich so viele Vorteile bringt. Denn wer nicht sitzenbleibt, bekommt viele Förderangebote. Es ist mittlerweile auch in der Lebenswirklichkeit der Familien angekommen, dass man nicht sitzenbleiben muss.

Oder lag es daran, dass Schulleiter und Lehrer nicht intensiv genug über diese Möglichkeit informiert haben, auch weil jede Wiederholung organisatorischen Aufwand bedeutet?

Ties Rabe: Nein. Schulen bekommen für Klassenwiederholer mehr Lehrerstellen. Insofern gibt es sogar einen Anreiz für die Schulen. Nein, das ist weniger der Grund gewesen. Ich glaube auch nicht, dass es nicht genug Informationen gab. Nur wenige Maßnahmen wurden öffentlich so stark kommuniziert wie diese. Die meisten Schüler werden sich sagen, das bekomme ich auch so hin und ich brauche den Wechsel in eine fremde Klasse nicht, zumal wir ja ein breites Unterstützungsprogramm für leistungsschwächere Schüler haben.

Wie lange wird es uns noch beschäftigen, bis die pandemiebedingten Defizite aufgeholt sind?

Ties Rabe: Lernrückstände sind sehr ungleich verteilt. Größere Rückstände gibt es bei Schülerinnen und Schülern, die zu Hause schlecht lernen können. Aber es gibt viele, die aufgrund ihrer persönlichen Lernerfahrung und ihres familiären Umfeldes zu Hause gut lernen konnten. Es trifft vor allem die Schülerinnen und Schüler aus bildungsferneren Familien und noch etwas stärker die Jüngeren als die Älteren. Zudem gibt es Fächer, die Lernrückstände verzeihen. Zum Beispiel Sport, Kunst und manchmal sogar Deutsch. Ganz anders in Mathematik, wo alles aufeinander aufbaut. Wenn hier ein Stein fehlt, kommt das ganze Gebäude in Schieflage. In diesem Fach wird einen längeren Zeitraum dauern, um alles aufzuholen.

Es gibt in Hamburg mehrere Programme zum Aufholen von pandemiebedingten Lernrückständen. Ein Baustein sind die Lernferien, die gerade wieder laufen. Können Sie schon eine erste Bilanz ziehen?

Ties Rabe: Die Lernferien laufen hervorragend, Eltern und Kinder schätzen das Angebot und die Schulen leisten hier wirklich großartige Arbeit. Das freiwillige und kostenlose Angebot von 15 Unterrichtsstunden pro Woche nutzen in diesen Ferien um die 9.000 Schülerinnen und Schüler. 244 Schulen machen mit, es gibt fast 1.100 Lerngruppen mit jeweils acht bis zehn Schülern. Jetzt laufen die Lernferien über zwei Wochen, in den Frühjahrs- und Herbstferien jeweils eine Woche. Die Beteiligung bleibt erfreulicherweise hoch.

Außerdem gibt es das Programm „Anschluss” in Zusammenarbeit mit der „Zeit”-Stiftung, bei dem 1.000 Lehramtsstudierende im neuen Schuljahr als Mentorinnen und Mentoren in den vierten Klassen der Grundschulen eingesetzt werden sollen. Wie viele Studierende haben sich denn schon beworben?

Ties Rabe: 1.000 brauchen wir niemals, weil wir nur knapp 700 vierte Klassen an staatlichen Schulen haben. Bislang haben sich bereits 500 Studierende gemeldet, einige wollen sogar mehrere Kurse geben. In jeder vierten Klasse können mit diesem Programm noch einmal zusätzlich bis zu vier Schüler gefördert werden. Bislang wollen schon 95 Prozent aller Grundschulen mitmachen.

Und wie läuft es bei der regulären Lernförderung, mit der leistungsschwächere Schüler am Nachmittag unterstützt werden, um letztlich das Sitzenbleiben zu vermeiden?

Ties Rabe: Diesen kostenlosen Nachhilfeunterricht werden wir noch einmal um 50 Prozent erhöhen. Bislang geben wir für diesen Bereich 13 Millionen Euro an Personalkosten aus, jetzt kommen noch einmal sieben Millionen Euro hinzu. Die Schulen entscheiden dann, ob sie Lehrkräfte, Pensionärinnen und Pensionäre oder Studierende für den Nachhilfeunterricht beschäftigen. Auch die Privatschulen bekommen ihren Anteil. Ich bin sehr zuversichtlich, dass es mit den drei Bausteinen gelingt, einen größeren Teil der Lernrückstände im kommenden Jahr aufzufangen. Am Ende müssen wir vermutlich eher aufpassen, dass wir bei so vielen Förderangeboten die Schülerinnen und Schüler nicht überfordern.

Vielleicht sind die psychischen und sozialen Folgen der Lockdowns sogar wichtiger als kognitiven Defizite. Hat die Schulbehörde untersucht, welche psychischen Folgen das Corona-Jahr bei den Schülern hinterlassen hat?

Ties Rabe: Solche Untersuchungen kann man als Schulbehörde nicht hemdsärmelig durchführen. Aber es gibt mittlerweile viele wissenschaftliche Studien, die zeigen, dass Schülerinnen und Schüler die Sozialkontakte vermissen und mit der Schule zugleich ihren Lebensrhythmus verlieren. Ein Schüler hat gesagt: “Am Anfang macht es noch Spaß, aber drei Wochen in der Jogginghose ist schon schwer erträglich.” Andererseits gibt es Hinweise darauf, dass sich die Computerspielzeit von Jugendlichen verdoppelt hat und es Ernährungsprobleme gibt. Das sind alles Alarmzeichen, die deutlich machen, wie wichtig die Schule als stabilisierendes und gestaltendes Element für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist.

Gibt es spezielle therapeutische Angebote für psychisch beeinträchtigte Schüler?

Ties Rabe: In unseren 13 Regionalen Bildungs- und Beratungszentren beraten und unterstützen rund 150 Psychologen, Sozialpädagogen und andere Pädagogen die Schülerinnen und Schülern mit sozialen und psychischen Problemen in jeder Lebensphase. Da geht es um die Angst vor Schule, Mobbing, Selbstverstümmelung, aber auch ums Schulschwänzen. Diese Angebote wollen wir mit dem Förderprogramm der Bundesregierung ausweiten.

Laut Mitteilung ihrer Behörde im März waren von 63.159 Laptops und Tablets an den allgemeinbildenden Schulen rund 7500 Geräte (12 Prozent) nicht einsatzbereit. Wie sieht es mit Blick auf den Start des Schuljahres aus?

Ties Rabe: Mittlerweile sind über 62.000 Geräte einsatzbereit. Das ist übrigens im Bundesvergleich außerordentlich viel. Die Gründe dafür, dass zunächst nicht alle Geräte benutzt werden konnten, sind vielfältig. Zum Teil lag es daran, dass sie noch nicht konfiguriert waren. Manche Schulen hatten auch Personal- und Organisationsprobleme.

Benötigen die Schüler eigentlich die Laptops wirklich?

Ties Rabe: Zum Lernen zu Hause und in der Schule sind Laptops in immer mehr Klassenstufen mittlerweile unverzichtbar. Die meisten Schülerinnen und Schüler haben eigene Geräte. Wer keins hat, dem leiht die Schule ein Gerät. Beim Ausleihen für Zuhause war die Resonanz sehr unterschiedlich und hat uns auch ein Stück gewundert. Einzelne Schulen haben fast alle Geräte ausgeliehen, andere nur sehr wenige, auch in Zeiten des Lockdowns. Ob die Kinder und Jugendlichen eigene Geräte verwendet haben oder man in Zukunft noch etwas wachsamer nachsteuern muss, ist im Moment nicht klar zu unterschieden. Die eigentliche Praxis sollte sein, dass die Geräte in den Schulen eingesetzt werden. Im Zuge der Digitalisierung bin ich zuversichtlich, dass die 60.000 Geräte im Unterricht auch genutzt werden, wenn auch vielleicht nicht in jeder Stunde. Insgesamt ist der Bedarf groß.

Zum neuen Schuljahr sollen alle Pädagoginnen und Pädagogen der staatlichen Schulen ein Dienst-Tablet erhalten. Klappt das? Wie viele Geräte sind schon ausgeliefert?

Ties Rabe: Die Ausschreibung ist umgesetzt, wir haben die Tablets bei den Herstellern vor Wochen bestellt. Wir wissen aus dem letzten Jahr, dass wir den Markt mit einer so großen Bestellung an die Grenzen führen. Ich drücke im Moment die Daumen, dass wir im August, spätestens im September jeder Lehrkraft ein Tablet in die Hand drücken können. Das wäre ein großer Erfolg.

Die Länder haben die Schulen sehr unterschiedlich durch die Corona-Pandemie gesteuert. Viele Menschen kritisieren den daraus entstehenden Flickenteppich. Brauchen wir mehr zentrale Vorgaben und bundesweit geltende einheitliche Regeln?

Ties Rabe: Ich hätte mir ein klareres Gerüst in Bezug auf Inzidenzwerte, Wechselunterricht und Schließungen gewünscht. Ich habe mich in der Kultusministerkonferenz mehrfach dafür eingesetzt, ebenso der Bürgermeister in den Runden der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin. Aber das ist leider nicht gelungen. Für alle wäre es einfacher, wenn Eltern und Lehrkräfte nicht den Eindruck hätten, jeder macht was er will. Den bundesweiten Konsens habe ich ein Stück weit vermisst in der Schulpolitik.

Braucht es gesetzgeberische Regelungen, nachdem der Appell nicht gefruchtet hat?

Ties Rabe: Es ist grundsätzlich richtig, dass wir ein föderales System haben, in dem die Länder Freiheiten haben. In einer Pandemie wie dieser, wo es um existenzielle Entscheidungen geht, wäre eine größere Einheitlichkeit wünschenswert. Das hat sich erst geändert, als der Bundestag Eckpunkte beschlossen hat, also Schulschließung bei einem Inzidenzwert von 165 und Wechselunterricht ab 100. Das ist ein Fingerzeig, wie auch in Zukunft bei solchen Ausnahmesituationen gehandelt werden könnte.

Herr Rabe, Sie sind seit mehr als zehn Jahren im Amt und damit dienstältester Bildungsminister in Deutschland. Den Hamburger Rekord in der Zeit seit 1946 hält Rosemarie Raab mit 13 Jahren. Wollen Sie den knacken?

Ties Rabe: Ich bin für diese Legislaturperiode gewählt, und mir macht die Arbeit trotz Corona immer noch Spaß. Mich motiviert das Ziel, meine Aufgaben ordentlich und gut zu machen und Hamburgs Schulsystem voranzubringen. Wenn ich dabei noch einen Rekord knacke, soll mir das auch recht sein, aber das steht nicht im Mittelpunkt.