Hamburg. Hat Annalena Baerbock Chancen aufs Kanzleramt? Und wie würde sich dann die Bundesrepublik verändern?
Blickt man auf die jüngste Umfrage von Forsa, mag man sich an einen Hit aus dem Musical „My Fair Lady“ erinnern – es grünt so grün: Manche Meinungsforscher sehen die Ökopartei erstmals seit Juni 2019 wieder vor der Union; Forsa sah sie in der vergangenen Woche sogar mit 28 Prozent sieben Prozentpunkte vor der CDU/CSU. Nun sind Meinungsumfragen mit Vorsicht zu genießen. Aber eins scheint klar: An den Grünen, noch 2017 mit 8,9 Prozent lediglich die Nummer sechs unter den Parteien im Bundestag, noch hinter FDP, AFD und Linkspartei, führt bald kein Weg mehr vorbei.
Und mit der Entscheidung der Union, auf den Spitzenkandidaten Armin Laschet statt auf Markus Söder zu setzen, riskiert die ewige Kanzlerpartei möglicherweise nun sogar ihre sicher geglaubte Pole Position.
Kein Zweifel, es läuft derzeit für die Grünen. Zunächst einmal sollte die Parteispitze ein Glückwunschtelegramm an die FDP senden – wäre sie im November 2017 unter Angela Merkel in eine Jamaika-Koalition eingetreten, hätten sich die Grünen als Regierungspartei in der Krise womöglich ähnlich entzaubert wie Union und SPD.
„Fridays for Future“ hat die Grünen für viele erstmals wählbar gemacht
Stattdessen konnten sich die Grünen – auch unter tatkräftiger Mithilfe mancher Medien – als die muntere Stimme der Opposition gegen eine müde Koalition profilieren. Der „Stern“ hat gerade jede Erinnerung vergessen gemacht, einstmals auch ein politisches Magazin zu sein, und säuselt „Endlich anders – Annalena Baerbock will neue Spielregeln für die Politik“ und „Plötzlich geht es um Inhalte und nicht Personen.“
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Kritische Fragen bekommt sie eher selten – und bei Pro Sieben klatschten die Moderatoren der Kandidatin am Ende sogar Beifall. Offenbar beginnt der „konstruktive Journalismus“ den kritischen Journalismus zu verdrängen. Es ist aber nicht allein die gute Presse: Sowohl Robert Habeck als auch Annalena Baerbock haben die Partei so harmonisch wie professionell an die Spitze geführt, geholfen hat ihnen dabei das Megathema Klimaschutz.
Die Massenbewegung „Fridays for Future“ hat die Grünen für viele erstmals überhaupt wählbar gemacht. Und damit dürfen die Grünen, früher Sponti- und Splitterpartei, nun vom Kanzleramt träumen.
Merkel zuletzt oft rot-grüner als Gerhard Schröder und Joschka Fischer zusammen
Was aber ändert sich, sollten die Grünen ab Herbst 2021 die Regierungschefin stellen? Die überraschende Antwort: wahrscheinlich eher wenig. Denn Kanzlerin Angela Merkel war zuletzt nur dem Parteibuch nach Christdemokratin – in ihrer Realpolitik war sie oft rot-grüner als Gerhard Schröder und Joschka Fischer zusammen.
Minuziös hat sie in 16 Jahren mit ihrer Richtlinienkompetenz vor allem die Parteiprogramme von Linken, Sozialdemokraten und Grünen abgearbeitet: Ein beschleunigter Atomausstieg, die Aussetzung der Wehrpflicht, die Ehe für alle, der Mindestlohn, das Antidiskriminierungsgesetz, die offenen Grenzen, die Rente nach 45 Berufsjahren und zum Finale der Einstieg in die europäische Schuldenunion. Nichts davon fand sich im Union-Wahlprogramm. Es bedarf nun schon etwas Fantasie, die Politik noch grüner zu gestalten.
Natürlich sind die Grünen eine Partei der Staatsgläubigkeit und des Etatismus – aber die Union unter Angela Merkel war es auch: Die Staatsquote ist in ihrer Regierungszeit deutlich gestiegen. Unter Gerhard Schröder sank sie von 48,1 im Jahr 1998 auf 46,8 Prozent sieben Jahre darauf – übrigens in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten.
Regieren war in den vergangenen Jahren allen Problemen zum Trotz ein Fest
Danach senkte die Große Koalition diesen Anteil der Staatsausgaben auf 43,4 Prozent, bis im vergangenen Jahrzehnt der Trend drehte – und in der Corona-Krise 2020 auf den Rekordwert von 51,3 Prozent kletterte. Dazu passt eine Meldung der vergangenen Tage vom Jobwunder in den Bundesministerien.
Die Zahl der Beschäftigten, die über Jahre konstant war, stieg binnen sechs Jahren plötzlich um 22 Prozent. Regieren war in den vergangenen Jahren allen Problemen zum Trotz ein Fest: Es war einfach (zu) viel Geld da: Die Steuereinnahmen wuchsen zwischen 2005 und 2019 um rund 77 Prozent. Es waren die Jahre des einfachen Regierens – die Kanzlerin verfrühstückte die Dividenden der rot-grünen Reformpolitik.
Die Spielräume für eine andere Politik sind enger geworden
Damit dürfte es in Zeiten der Pandemie nun vorbei sein – und hier liegt der zweite Grund, warum eine mögliche Kanzlerin Annalena Baerbock keine radikale Wende bringen wird: Ihre Spielräume zum Verteilen sind enger geworden. Das dürfte sie – wie auch die rot-grüne Regierung 2003 – nach einer anfänglichen Euphorie bald auf den Boden der Tatsachen zurückholen.
Das Ergebnis der Krise damals war die Agenda 2010, von der die bundesrepublikanische Wirtschaft und Kanzlerin Merkel gut gelebt haben. Es wirkt seltsam, aber oftmals machen Regierende das Gegenteil von dem, wofür sie gewählt werden, statt die eigentliche Programmatik gerät das ganze Wahlvolk in den Blick – und die normative Kraft des Faktischen rückt die Entscheider in die Mitte.
So fällt es linken Parteien am Ende oft leichter, Wirtschaftsreformen durchzusetzen. Ein konservativer Regierungschef muss stets mit massivem Widerstand bei Gewerkschaften, Opposition, Nichtregierungsorganisationen und Medien rechnen – deshalb hat Angela Merkel jede liberale Reform gescheut. Derlei Widerstände kann eine grüne und linke Kanzlerin leichter überwinden, weil sie aus dem eigenen Lager kommen. Gesellschaftliche Liberalisierungen wie etwa die Homoehe – siehe Merkel – lassen sich paradoxerweise hingegen leichter von Konservativen umsetzen.
Mittelmaß war meist gut genug
Noch ein Beispiel: Der erste Kampfeinsatz der Bundeswehr im Ausland (1999 im Kosovo) setzte ausgerechnet die friedensbewegte rot-grüne Bundesregierung durch. Ihr liberales Zuwanderungsgesetz nach kanadischem Vorbild hingegen scheiterte am erbitterten Widerstand der Union – also der Partei, die 2015 die Grenzen öffnete.
Was seltsam klingt, ist einfach zu erklären: Wenn die führende Oppositionspartei eine ähnliche Position vertritt, fallen Reformen leicht. Wenn sie sich erbittert dagegen wehrt und daraus eine Option auf den Machtwechsel entwickelt, werden Reformen hingegen fast unmöglich. Deshalb ist die schwarz-gelbe Regierung 2011 aus der Atomkraft ausgestiegen.
Annalena Baerbock im Porträt:
Das Fehlen einer echten wirkungsmächtigen Opposition hat auch in den vergangenen Jahren die Performance der Großen Koalition geschmälert: Das Mittelmaß war meist gut genug, die AfD wurde kaum ernst genommen, die Linke galt als radikal, die FDP als Two-Man-Show; erst zuletzt konnten die Grünen als gefühlte Oppositionsführer punkten. Daraus leitet sich ab: Wichtig für eine gute Regierung ist eine gute Opposition.
Wer will mit den Wahlverlierern zusammen regieren?
Eine Kanzlerin Baerbock würde vermutlich effizienter regieren, wenn die Union als Oppositionspartei ihr das Leben schwer machen würde. Eine weitere, dann Große Koalition aus CDU und Grünen hätte hingegen nur eine schwache Opposition gegen sich. Möglicherweise wiederholt die Union dann einen Fehler, den sie schon 2008 im ersten schwarz-grünen Bündnis in Hamburg gemacht hat.
Sie gab sich in den Verhandlungen maximal geschmeidig, um das Bündnis zu ermöglichen – dieses regierte dann nebeneinanderher statt zusammen und arbeitete etwas chaotisch Formelkompromisse ab. Wichtiger als Ergebnisse war stets das Bündnis an sich.
Je näher sich die Ergebnisse von Grünen und Union kommen, umso unwahrscheinlicher ist ein Zusammengehen. Wenn CDU/CSU unter 30 Prozent rutschen, verlieren sie jede Machtoption – wer will mit den Wahlverlierern zusammen regieren? Erst recht wenn es andere Bündnis-Optionen gibt.
Manches spricht derzeit für ein Dreierbündnis
Es spricht derzeit manches für ein Dreierbündnis – entweder als realistischere Variante aus Grünen, SPD und FDP oder als tollkühnes Trio aus Grünen, SPD und Linkspartei. Der rot-rot-grüne Berliner Senat mit seinem Scheitern in Serie und seiner ideologischen Herangehensweise an viele Fragen, wie gerade der gekippte Mietendeckel zeigt, taugt eher als abschreckendes Beispiel. Vor dem Hintergrund der internationalen Dimension dürfte ein Bündnis mit der Linkspartei, die die Nato auflösen möchte und engere Kontakte zu Russland sucht, kaum durchsetzbar sein.
Zumal die FDP nach ihrem Ausstieg aus den Koalitionsverhandlungen 2017 nun auf Verantwortungsübernahme geradezu drängt – die Liberalen müssen diese Scharte auswetzen. Als größter Nutznießer der Unionskrise könnte ihr Ergebnis locker zweistellig werden. Die SPD hingegen dürfte der unsicherste Kantonist in einer Dreiercombo werden – je stärker sich ein Zweikampf an der Spitze zwischen Baerbock und Laschet herauskristallisiert, umso bitterer könnte es für die Nummer drei, die SPD, werden.
Grüne müssen Kompromisse eingehen
Gut möglich, dass der sozialdemokratische Spitzenkandidat Olaf Scholz am 26. September seinen Markus-Weinberg-Moment erlebt. Die marginalisierte Hamburger Union wurde im Zweikampf der Bürgerschaftswahl 2020 zwischen SPD und Grünen zerrieben und erodierte auf 11,2 Prozent. Derzeit spricht wenig dafür, dass Scholz in den verbleibenden fünf Monaten Momentum gewinnt.
Die aktuelle Stimmungslage – auch wenn das endgültige Ergebnis der Grünen noch etwas bröckeln und die Union als stärkste Partei ins Ziel gehen dürfte – deutet auf einen Erstzugriff der Grünen auf das Kanzleramt: Sie haben nicht nur mehr potenzielle Koalitionspartner, sie verkörpern auch den wachsenden Wunsch nach einem Wechsel. Und eine Regierung ohne die Union wird am ehesten die Kandidatin Annalena Baerbock verwirklichen können.
Zurück zur Ausgangsfrage – wie grün wird dann die Republik? Viel weniger grün, als derzeit manche befürchten. Die Grünen werden ja nicht mit absoluter Mehrheit ins Kanzleramt einziehen, sondern müssen Kompromisse eingehen: Mit einer Ampel im Bund dürfte sich an der Realpolitik wenig verändern, tendenziell könnte eine FDP sogar wirtschaftspolitisch die ein oder andere Liberalisierung durchsetzen.
An Steuererhöhungen wird wohl kaum ein Weg vorbeiführen
Fast unabhängig von der Farbe im Kanzleramt dürften die Monate nach der Pandemie im Zeichen der Investitionen stehen. Das Investitionsprogramm von Bündnis 90/Die Grünen ist kein Alleinstellungsmerkmal, aber besonders großzügig. Es wird die (umweltfreundliche) Infrastruktur ausbauen und den Klimaschutz voranbringen.
Der Weg zur Finanzierung über eine Aussetzung der Schuldenbremse dürfte in einer Ampel schon schwererfallen. Ähnlich verhält es sich mit dem üppigen Ausbau von Hartz IV zur Garantiesicherung. Wenn nun das grüne Programm den Regelsatz von 432 Euro auf 603 Euro anheben will, Asylbewerbern ab Einreise einen „unterschiedslosen Zugang zu Wohnraum, Gesundheits- und Sozialleistungen“ gewähren will und eine „einladende Zuwanderungspolitik“ auch für Gering- und Unqualifizierte verspricht, dürfte schon bald das kleine Wort „Finanzierungsvorbehalt“ fallen.
An Steuererhöhungen wird wohl kaum ein Weg vorbeiführen. Anders als früher haben die Grünen im Programm die Daumenschrauben hübsch verpackt und versteckt – von 5 D-Mark für den Liter Benzin oder dem obligatorischen Veggieday ist keine Rede mehr. Das aktuelle Programm versteht sich wortwörtlich als „Einladung“. Um die ambitionierten Klimaziele zu erreichen, wird es aber nicht ohne Grausamkeiten gehen. Der Kabarettist Dieter Nuhr spottete bereits: „Gegen dieses Programm ist die Seifenblase ein stabiles architektonisches Gebilde.“
Arbeitgeber fürchten eine andere Gesellschaftsordnung
Trotzdem könnte es für das Kanzleramt langen – die Grünen haben sich mehrfach gehäutet. Derzeit erleben sie die Chance, zur Volkspartei zu werden: In der vergangenen Woche verzeichneten die Grünen einen Zulauf von 2159 neuen Mitgliedern, sonst sind es pro Woche zwischen 150 und 300. „Die Eintrittswelle ist ein absoluter Rekord in der Parteigeschichte“, sagt Bundesgeschäftsführer Michael Kellner. „Es läuft rund bei uns, und das macht mir gute Laune.“
Allerdings sollte man sich auch nicht blenden lassen: Ein Reformmotor wie zur Jahrtausendwende sind die Grünen nicht unbedingt. Hinter den Spitzengrünen wie Joschka Fischer und Jürgen Trittin standen in der zweiten Reihe damals wirtschafts- und reformaffine Politiker wie Christine Scheel, Oswald Metzger oder Matthias Berninger. Metzger ist heute in der CDU, Berninger bei Bayer. Die zweite Reihe der Grünen heute ist ziemlich bunt, insgesamt ist die Partei mit dem Zeitgeist nach links gerutscht.
Annalena Baerbock: "Kämpferisch, fokussiert, willensstark"
So warnt die Bundesvereinigung der Arbeitgeber schon, die Grünen-Pläne seien im Gegensatz zum bürgerlichen Auftreten einiger Spitzenpolitiker eine „Ansage für eine radikale Transformation von der Marktwirtschaft und Gesellschaft unter dem Label der sozialökologischen Erneuerung“ hin zu einer „anderen Gesellschaftsordnung“.
Damit kommt dann doch ein Hauch von Kulturkampf in den Wahlkampf. Fraglich ist nur, ob dieses Schreckensszenario noch zieht – geradezu liebedienerisch hat sich die Union in den vergangenen Jahren an die Grünen herangeworfen. Der Bürgerschreck von einst ist längst Bürger geworden: Ministerpräsident Winfried Kretschmann wurde im konservativen Ländle gerade zum dritten Mal gewählt.
Wer politische Wetten mag, sollte auf Baerbock setzen.