Hamburg. Am Montag wird über die Kanzlerkandidatur entschieden. Die Partei könnte vier der sechs Direktmandate bei der Bundestagswahl holen.

Wenn die Grünen richtig gute Laune bekommen wollen, dann klicken sie in diesen Tagen auf „elec­tion.de“ – eine von Politikern gern besuchte Umfrage- und Prognose-Plattform. Eine Spezialität von „election.de“ ist die fortlaufend aktualisierte Voraussage der Erststimmenergebnisse sämtlicher 299 Wahlkreise bei der Bundestagswahl am 26. September.

Manches Grünen-Mitglied, das noch andere Zeiten kennt, mag da seinen Augen nicht trauen: In vier der sechs Hamburger Wahlkreise liegt die Partei nach Einschätzung der Plattform derzeit vorn. Im Wahlkreis Altona beträgt die Wahrscheinlichkeit 76 Prozent, dass die grüne Direktkandidatin Linda Heitmann gewinnt. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Matthias Bartke, der den Wahlkreis 2017 direkt gewann, kommt nur auf 24 Prozent Wahrscheinlichkeit. In Eimsbüttel könnte sich Ex-Justizsenator Till Steffen mit 66 Prozent Wahrscheinlichkeit gegen Außen-Staatsminister Niels Annen (SPD) durchsetzen.

Knappes Rennen um Gewinn von Direktmandat in Hamburg

Sehr knapp verspricht das Rennen in den Wahlkreisen Nord/Alstertal und Mitte zu werden, wo „election.de“ den Grünen-Direktkandidaten Katharina Beck und Manuel Muja 55 bzw. 51 Prozent Wahrscheinlichkeit für den Gewinn des Direktmandats attestiert. Nur in Wandsbek und Harburg/Bergedorf liegen die SPD-Bundestagsabgeordneten Aydan Özoguz und Metin Hakverdi mit jeweils 98 Prozent Wahrscheinlichkeit scheinbar uneinholbar vorn.

Wenn die Grünen vier der sechs Wahlkreise direkt gewinnen sollten, käme dies einem Erdrutsch gleich. Vor vier Jahren hatte sich die SPD, gewissermaßen standesgemäß, in fünf von sechs Fällen durchgesetzt. Nur dem heutigen CDU-Landesvorsitzenden Christoph Ploß gelang es im Wahlkreis Nord/Alstertal, in die rote Phalanx einzubrechen. Übrigens: Damals hatte „election.de“ mit seiner letzten Prognose vor der Wahl komplett richtiggelegen.

Grünen erheben Anspruch auf Kanzleramt

Nun bedarf es für Grüne mit Blick auf die Bundestagswahl eigentlich keines Stimmungsaufhellers. Die Sache läuft auch so buchstäblich wie am Schnürchen. Da mag sich die Union gerade angesichts der Frage zerlegen, wer Kanzlerkandidat werden soll – bei den grünen Aspiranten, den Parteivorsitzenden Robert Habeck und Annalena Baerbock, gibt es nicht den Hauch der Dissonanz. Längst ist es im politischen Betrieb und auch in weiten Teilen der Bevölkerung selbstverständlich geworden, dass auch die Grünen – erstmals – Anspruch auf das Kanzleramt erheben. Die Umfragen für die Partei sprechen für sich.

Und seit Monaten präsentieren sich Habeck und Baerbock gut gelaunt als Führungspaar, das am Ende die Entscheidung, wer es wird, unter sich ausmacht. Am kommenden Montag ist es nun so weit. Eine nahezu perfekte Choreografie und Dramaturgie hat die Grünen bis zu diesem Punkt geführt.

Baerbock wird das Rennen machen

Man erkennt die alte Chaos- und Spontipartei nicht wieder: Nicht nur die beiden haben sich in der ganzen Zeit nicht verplappert, auch das enge Umfeld der wenigen Wissenden hat dichtgehalten. Denn natürlich ist die Entscheidung längst gefallen, und Baerbock und Habeck liefern sich am Wochenende keinen Showdown wie die Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU) und Markus Söder (CSU) in der vorgeblichen Union.

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Das gut gehütete Geheimnis lautet, dass Baerbock das Rennen machen wird. Um die Spannung gleichwohl auf den Höhepunkt zu treiben und die öffentliche Aufmerksamkeit bis zuletzt zu gewährleisten, kann sich jeder die Entscheidung per E-Mail oder aufs Handy schicken lassen, sobald sie verkündet ist. „Erfahre es zuerst!“, lautet das etwas vollmundige Versprechen der Kampagne, und Baerbock und Habeck lächeln auf dem Foto dazu etwas verschmitzt-versonnen und ziemlich entspannt.

Fegebank glaubt an professionelle Regierung

„Zukunft geht nur gemeinsam & im Team #Baerbock#Habeck. Will auch zuerst erfahren, wer von beiden Kanzlerkandidat*in wird“, twitterte die Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Grüne). Dabei ist fraglich, ob sie wirklich etwas Neues am Montag erfahren wird. Fegebank sagt vorher allerdings nicht, wen der beiden sie favorisiert.

„Ein Kanzlerduo aus Annalena Baerbock und Robert Habeck wäre das Beste, was diesem Land passieren könnte. Geht aber leider nicht. Deshalb ist es gut, dass am Montag klar sein wird, wer das Rennen macht“, sagt Fegebank. „Egal wer von den beiden, die Leute können sich auf eines verlassen: Sie werden das Land mit der gleichen Professionalität und Souveränität regieren, wie sie die K-Frage miteinander geklärt haben. Politik zum Abgewöhnen gibt’s ja dieser Tage genug“, sagt die Wissenschaftssenatorin.

Innerparteiliche Geschlossenheit nach Personalentscheidung

Auch die Grünen-Landesvorsitzende und Justizsenatorin Anna Gallina hält die Spannung aufrecht. „Annalena Baerbock und Robert Habeck können beide Kanzlerin bzw. Kanzler. Beide sind starke Persönlichkeiten und werden gemeinsam einen erfolgreichen Wahlkampf führen, in dem es um so wichtige Weichenstellungen geht wie schon lange nicht mehr“, sagt Gallina und setzt noch gleich einen Seitenhieb gegen die Konkurrenz von der Union: „Wie bitter nötig wir Politiker und Politikerinnen brauchen, die einen klaren politischen Kompass haben, statt nur ihr Ego zu pflegen, zeigen die letzten Tage einmal mehr.“

Für Verkehrssenator Anjes Tjarks (Grüne) ist der entscheidende Punkt, dass die innerparteiliche Geschlossenheit auch nach der Personalentscheidung erhalten bleibt. „Die sollen sich einigen und einen gemeinsamen Vorschlag unterbreiten. Beide können es machen“, sagt Tjarks an die Adresse von Habeck und Baerbock.

„Das nennt man, glaube ich, ein Luxusproblem“

„Ich habe keinen Favoriten. Ich kenne beide gut, und ich schätze beide sehr. Das nennt man, glaube ich, ein Luxusproblem“, sagt Grünen-Bürgerschaftsfraktionschef Dominik Lorenzen, der vermutet, dass in der Union Laschet das Rennen macht: „Ich warne davor, Laschet nicht ernst zu nehmen. Kohl hat auch niemand ernst genommen, und der war dann 16 Jahre lang Kanzler.“

Auch wenn sich einige Spitzengrüne mit einem klaren Votum für einen der beiden aus nachvollziehbaren Gründen zurückhalten, so entgeht demjenigen, der sich in der Partei umhört, nicht, dass die Stimmung klar für Baerbock ist – bei aller Wertschätzung für Habeck.

„Ich habe eine klare Präferenz für Annalena Baerbock"

„Wir haben in jeder Hinsicht zwei hervorragende Köpfe für die Kanzlerschaft. Robert Habeck und Annalena Baer­bock haben beide bewiesen, dass sie Menschen für den Aufbruch in eine gerechtere Grüne Zukunft begeistern und auch im Austausch mit der Gesellschaft Politik weiterentwickeln können. Persönlich würde ich mich über die Kandidatur von Annalena Baerbock besonders freuen. Es wäre ein starkes Zeichen, eine Frau von ihrem Format als Repräsentantin dieser Gesellschaft zu haben“, sagt Bürgerschaftsfraktionschefin Jennifer Jasberg.

 „Ich habe eine klare Präferenz für Annalena Baerbock. Sie kann eine Menge bewirken für das Selbstverständnis von Frauen“, sagt Vize-Fraktionschefin Maryam Blumenthal und fügt hinzu: „Ich mag aber auch Robert gern, der ist eine coole Socke!“ Auch Ex-Senator Steffen legt sich fest: „Ich komme mit beiden Kandidaten sehr gut klar, habe aber eine klare Präferenz für Annalena Baerbock. Es ist jetzt das richtige Signal, mit einer Frau an der Spitze in den Wahlkampf zu gehen. Das ist aber nicht der einzige Grund, der für sie spricht.“

Hamburger Grünen unterstützten Baerbocks Karriere

Ganz unschuldig sind die Hamburger Grünen übrigens nicht an der steilen politischen Karriere von Annalena Baerbock. Als noch relativ unbekannte Brandenburger Bundestagsabgeordnete berichtete sie auf der Landesmitgliederversammlung im Dezember 2017 über das Scheitern der Jamaika-Verhandlungen auf Bundesebene.

Mehrere Hamburger Spitzengrüne sprachen sich damals dafür aus, dass Habeck Bundesvorsitzender der Grünen werden solle. Noch auf dem Rückweg im Zug von Hamburg nach Berlin erklärte Baerbock ihre Kandidatur für die Doppelspitze. Da war sie für viele noch „die Frau an seiner Seite“. Bald schon dürfte es umgekehrt sein.