Hamburg. Je näher das Kanzleramt rückt, desto harmloser ist das Programm. Die Botschaft: Welt retten geht auch, wenn es nicht wehtut.
Im Kühlschrank nur Champagner und Obst. Keine bösen Kohlenhydrate. Asketenfalten im Gesicht, der Bauch fast weg. 1996, sehr früher Morgen. Der einstige Straßenkämpfer kämpft wieder auf der Straße, diesmal gegen sich selbst. Im Morgengrauen runter zum Bonner Rheinufer, Tempoläufe, jeden Tag länger, weiter, schneller.
Manchmal sucht sich Josef Fischer Mitläufer, als Publikum für seine neue Rolle als Bildungsbürger. Er referiert Angelesenes, probiert Versatzstücke für Reden, die man im Bundestag oder vor der Uno-Vollversammlung halten könnte: Deutschlands Rolle, Deutschlands Verantwortung, im Zentrum immer „Nie wieder Auschwitz“.
Die Grünen wollen regieren
Der Fuchs Fischer ahnt, dass er zwei Jahre später Außenminister und Vizekanzler sein könnte. Kohls Union ist ausgezehrt, SPD-Schröder platzt vor Kraft, nun muss Fischers unberechenbare Partei nur noch ihren Ruf als Bürgerschreck verlieren. Deswegen unterzog sich der Obergrüne der öffentlichen Verspießerung: diszipliniertes Joggen, ordentlicher Anzug, konfliktarme Teflon-Sprache. Der perfekte Guten-Tag-Herr-Kaiser-Kandidat.
Ein Vierteljahrhundert später stecken die Grünen in einer ähnlichen Transformation. Sie wollen regieren. Und kennen den Preis: Berechenbarkeit. Kein Veggie-Day, keine Benzinpreiserhöhung, überhaupt keine Verbote oder pädagogischen Vorschriften. Hofreiters Eigenheim-Debatte war heikel genug, zum Glück untergegangen im Pandemie-Trubel. Wie damals, bei Fischer und Trittin, gilt es, mit eisernem Harmoniewillen den Eindruck der Schmusepartei zu stabilisieren, auch programmatisch.
Machtklug und streitfrei
Im Staub der implodierenden Merkel-Regierung präsentierte das Führungsduo ein Wahlprogramm, aus dem selbst engagierteste Grünen-Hasser keinerlei Bedrohung für die Komfortzone Deutschland herauslesen können. Ein ewiges Gesetz der teutonischen Wählerpsyche lautet: Nur Anbieter, die Harmloses im Programm versammeln, haben Chancen auf die Macht. Das erfuhr selbst Angela Merkel, als der Ausflug in eine liberalere Sozial- und Wirtschaftspolitik namens Leipziger Programm sie 2005 fast den Wahlsieg gekostet hatte.
Machtklug und streitfrei haben Annalena Baerbock und Robert Habeck mithilfe ihres schlauen Bundesgeschäftsführers Michael Keller die Grünen regierungstauglich geschliffen, die heikle, aber leider reale Probleme ausblenden.
Alles Kretschmann, auch im Bund
Alle Welt weiß, dass wir weit über unsere Verhältnisse leben, dass der Konsum von Fleisch, Flügen, Unsinnsautos keine Zukunft hat, dass acht, neun, zehn Milliarden Menschen zu viel sind für den Planeten, dass mit ein bisschen Bio und Elektro in Deutschland global nichts zu ändern ist, dass echter Klimaschutz demokratisch derzeit nicht durchzusetzen ist. Nur: Mit Wahrheit gewinnt man keine Wahl.
Der nette Ton mit nachdenklichen Einsprengseln, die socialmediagefällige Inszenierung jedes Auftritts, straff nach innen, geschmeidig nach außen – eine Partei zwischen Apple und Manufaktum-Katalog. Die Botschaft: alles Kretschmann, auch im Bund. Keine Angst, wir tun nicht weh. Mit Cem Özdemir oder Boris Palmer hätten wir sogar zwei potenzielle Innenminister-Kandidaten, an die nicht mal die CSU rankommt.
Herrliches Zukunftsversprechen
Je steiler die Union fällt, desto massiver werden die Grünen ihre Harmlosigkeit zelebrieren. In die Nähe des Kanzleramts schafft nur, wer wenig anders, aber alles besser machen will. Dafür haben die Grünen das Theoriegebäude vom grünen Wirtschaftswunder errichtet. In Kürze: Öko-Technik wird die absehbaren Dellen bei Automobil, Verkehr, Konsum ausgleichen. Botschaft: Welt retten bei stabilem Lebensstandard ist möglich.
Ein herrliches Zukunftsversprechen, das nur bis Ende September halten muss. Dann wird in den Koalitionsverhandlungen mit den Universalargumenten „Arbeitsplätze“, „Konkurrenzfähigkeit“ und „Corona-Aufholjagd“ der letzte Rest an Zumutungen aus dem Programm geschliffen.
Was bleibt? Tempo 130 auf Autobahnen.