Brüssel. Ihre Partei liegt vorn, doch die EU-Kommissionspräsidentin hat ihr Amt trotzdem nicht sicher. Ein Rivale wird ihr gefährlich.

Im Brüsseler Hauptquartier der europäischen Christdemokraten strahlt Ursula von der Leyen in die Kameras: „Wir haben die Europawahlen gewonnen. Wir sind die stärkste Partei“, ruft die Kommissionspräsidenten am späten Sonntagabend ihren Parteifreunden zu. Die Europäische Volkspartei (EVP) sei der „Stabilitätsanker“ und werde die „Bastion“ sein gegen extreme politische Kräfte von rechts und links. Die 65-Jährige hat einen anstrengenden Wahlkampf hinter sich, aber an Durchatmen ist nicht zu denken. Jetzt muss sie den Anspruch markieren, auch die nächsten fünf Jahre als Präsidentin die EU-Kommission zu führen. Die Ausgangslage nach diesem Wahlabend ist besser als erwartet, aber sicher ist nichts.

Die EVP ist wieder stärkste Kraft im EU-Parlament, laut einer am späten Sonntagabend veröffentlichten Prognose sogar mit etwas mehr Mandaten als bisher: 189 von 720 Sitze entfallen demnach auf die europäischen Christdemokraten, die Sozialdemokraten kommen auf 135 Sitze. Erhebliche Verluste verbuchen vor allem die Liberalen mit 80 und die Grünen mit 52 Sitzen, die Linke kommt auf 36 Sitze. Zugleich erlebt das Parlament den befürchteten Rechtsruck: Zusammen könnten die Rechtsaußen-Kräfte auf etwa 160 Mandate kommen, zählt man einen Teil der fraktionslosen Abgeordneten hinzu - aber das ist noch weit von jeder Blockademöglichkeit entfernt, die Proeuropäer bleiben im Parlament klar in der Mehrheit. Für von der Leyen ist das jedoch keine Garantie, der Wahlsonntag ist nur eine Etappe – der eigentliche Wahlkampf geht für die Präsidentin nun erst richtig los.

Schafft sie es, sich nun eine doppelte Mehrheit für eine zweite Amtszeit bis 2029 zu sichern? Von der Leyen braucht erst eine Nominierung im Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs, dann müsste sie die Abstimmung im neu gewählten Europäischen Parlament bestehen. Von der Leyen sagt kurz vor Mitternacht, sie sei „ziemlich zuversichtlich“ für eine zweite Amtszeit und werde schon am Montag auf Sozialdemokraten und Liberale zugehen, mit denen sie in der vergangenen Wahlperiode gut zusammengearbeitet habe. Auf die Parteien in der Mitte komme nun eine große Verantwortung zu. Was den Rat angeht, hatte von der Leyen schon zuvor erklärt, die Regierungschefs schätzten ihre Erfahrung im Spitzenamt. „Sie wissen, was sie bekommen“, meint sie. Dem Argument können Diplomaten in Brüssel einiges abgewinnen, sie sehen von der Leyen deshalb in der Poleposition. Aber sicher ist nichts, ihr Rückhalt bei den Regierungen hatte zuletzt gebröckelt.

Von der Leyen in der Kritik: Macron geht auf Distanz

Da ist ein latenter, mitunter offener Unmut in einigen Hauptstädten. Es gibt Klagen über von der Leyens Eigenmächtigkeiten, über fehlende Abstimmung vor allem in der Außenpolitik, zu viel Regelungseifer oder ihr Management bei der kostspieligen Corona-Impfstoffbeschaffung. Der französische Präsident Emmanuel Macron, dem von der Leyen ihren Posten verdankt, ist sichtbar auf Distanz gegangen, hat nun allerdings zuhause ganz andere Konflikte zu bewältigen. Im Vorfeld deutete aber auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) an, dass sein Rückhalt für die deutsche CDU-Frau Grenzen hat.

Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte von der Leyen nach der Europawahl 2019 für den Chefposten in der Kommission vorgeschlagen, ihm hat sie ihr Amt zu verdanken. Im Wahlkampf war Macron nun aber von ihr abgerückt.
Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte von der Leyen nach der Europawahl 2019 für den Chefposten in der Kommission vorgeschlagen, ihm hat sie ihr Amt zu verdanken. Im Wahlkampf war Macron nun aber von ihr abgerückt. © AFP | Ludovic Marin

Die nächsten Tage werden deshalb spannend: Am kommenden Freitag und Samstag werden Scholz, Macron und die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni am Rande des G7-Gipfels im italienischen Apulien vertrauliche Sondierungsgespräche führen. Eine Vorentscheidung dürfte bei einem informellen EU-Gipfeldinner am Abend des 17. Juni fallen: Die EVP will sich dort die Zusage holen, als stärkste Kraft die Kommissionsspitze zu besetzen und zumindest in der ersten Hälfte der Wahlperiode die Parlamentspräsidentin zu stellen (Amtsinhaberin Roberta Metsola gilt als gesetzt). Die Sozialdemokraten könnten dafür den Ratspräsidenten vorschlagen (Favorit ist der frühere portugiesische Premier António Costa) und die Liberalen den EU-Außenbeauftragten (die besten Chancen werden der estnischen Ministerpräsidentin Kaja Kallas zugesprochen).

Das Personalpaket soll dann bei einem Gipfeltreffen am 27. und 28. Juni von den Regierungschefs abgesegnet werden. Von der Leyens Vorteil: Im Rat gehören immerhin 13 der 27 Regierungschefs der christdemokratischen EVP-Parteienfamilie an. Ihr Problem: Beim Gipfel führt Ratspräsident Charles Michel Regie. Zwischen den beiden Präsidenten gab es erst die üblichen Eifersüchteleien, aus denen aber im Lauf der fünf Jahre erst Rivalität und nun erbitterte Feindschaft wurde. In Brüssel glauben Diplomaten, Michel werde alles daran setzen, von der Leyen zu stürzen.

Der frühere italienische Premierminister Mario Draghi gilt als einer der möglichen Alternativkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten, wenn von der Leyen scheitern sollte.
Der frühere italienische Premierminister Mario Draghi gilt als einer der möglichen Alternativkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten, wenn von der Leyen scheitern sollte. © Bloomberg via Getty Images | Bloomberg

Von der Leyen nach Europawahl: Parlament müsste sie mit absoluter Mehrheit wählen

Aber auch wenn sie beim Gipfel Erfolg hat: Danach muss das Parlament sie mit absoluter Mehrheit wählen. Schon 2019 erhielt von der Leyen trotz einer deutlichen Mehrheit der sie stützenden Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen nur neun Stimmen mehr als notwendig. Im EU-Parlament gibt es keine festen Koalitionen und keinen Fraktionszwang, Abweichler haben freies Spiel. Von der Leyen weiß, dass es diesmal sehr knapp wird. Sie hielt deshalb früh nach zusätzlichen Stimmen Ausschau, auch bei Parteien rechts von der EVP – vor allem bei den Abgeordneten der rechtsgerichteten italienischen Fratelli d‘Italia von Giorgia Meloni. Die hält ihre Karten bedeckt, signalisiert aber durchaus Gesprächsbereitschaft: Man sei grundsätzlich zur Zusammenarbeit bereit, sagte Assita Kanko, die Vizechefin der EKR-Fraktion im EU-Parlament, der auch Melonis EU-Abgeordnete angehören. Es komme aber darauf an, welches Programm von der Leyen verfolge.

Sozialdemokraten, Liberale und auch die Grüne drohen jedoch, von der Leyen nicht zu wählen, sollte sie mit Rechtsaußen-Parteien kooperieren. Die Lage ist unübersichtlich: Das zersplitterte rechte Lager muss sich erst sortieren und neu aufstellen – wohin Meloni steuert, ist offen. Sozialdemokraten, Liberale und Grüne wollen derweil verbindliche Absprachen mit von der Leyen zu Eckpunkten der Kommissionspolitik aushandeln. Die SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley warnte am Sonntagabend, wer sich auf Meloni stütze, könne sich nicht gleichzeitig auf die demokratischen Fraktionen stützen. Doch Spitzenkandidat Nicolas Schmit klingt deutlich versöhnlicher und sagt, die Sozialdemokraten seien bereit zur Zusammenarbeit. Die Grünen, die von der Leyen beim letzten Mal nicht gewählt hatten, fordern in Brüssel, der Green Deal zum Klimaschutz müsse fortgesetzt, die Demokratie gestärkt werden. Zugleich betonen sie aber auch, man wolle keine „verbrannte Erde hinterlassen“ und die Anforderungen an ihr Zustimmung für von der Leyen nicht zu hoch schrauben. Die Liberalen bekennen sich schon zu einer „Pro-Europa-Koalition“. Bei den Christdemokraten ist die Erwartung klar: Die demokratischen Parteien sollten das Ergebnis akzeptieren und Kommissionspräsidentin von der Leyen schnell im Amt bestätigen, mahnt der CDU-Europaabgeordnete David McAllister.

Die Wahl soll in der ersten Sitzungswoche des neu gewählten EU-Parlaments vom 16. bis 19. Juli stattfinden. Fällt von der Leyen hier oder schon bei den Regierungschefs durch, sind schon eine Reihe von Alternativkandidaten im Gespräch, voran der Italiener Mario Draghi und Parlamentspräsidentin Roberta Metsola.