Essen/Deir al-Balah. „Save the Children“ versucht, den Kindern in Gaza zu helfen. Im Interview beschreibt die Team-Leiterin die grauenhaften Bedingungen.

Es ist nicht einfach, in diesen Tagen mit Rachael Cummings zu telefonieren. Im Gazastreifen gibt es nur zeitweise Internet, die Verbindung bricht immer wieder ab. Die Leiterin des Teams der Hilfsorganisation Save the Children in dem umkämpften Küstengebiet kritisiert im Interview mit unserer Redaktion den jüngsten israelischen Angriff auf ein Flüchtlingscamp bei Rafah scharf, warnt vor einer weiteren Verschlechterung der humanitären Lage und fordert eindringlich einen Waffenstillstand, damit mehr Hilfsgüter in den Gazastreifen gelangen.

Frau Cummings, wo erreiche ich Sie gerade?

Rachael Cummings: In Deir al-Balah, im westlichen Zentrum des Gazastreifens. Wir haben unser Büro nach dem 6. Mai von Rafah aus hierhin verlegt, nachdem sich viele Tausend Menschen in Erwartung der Bodenoffensive auf den Weg Richtung Norden gemacht hatten.

Wie ist die aktuelle Situation?

Schlimm. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Südlich Deir-al Balah gibt es nicht genügend Platz für all diese Flüchtlinge. Es herrscht drängende Enge. Es gibt kaum sauberes Wasser, nicht ausreichend Nahrung, nur wenige Hilfsangebote, es gibt keine Sanitäranlagen. Die Menschen laufen durch das Abwasser. Viele Kinder haben keine Schuhe, sie gehen barfuß durch die Kloake. Es ist heiß, alles ist voller Fliegen. Und es wird immer härter.

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    Warum?

    Die Evakuierungsanordnungen werden weiterhin auch immer wieder für den Norden des Gazastreifens herausgegeben, so dass die Leute von dort in den Süden drängen. Gleichzeitig gelten Evakuierungsanordnungen für Rafah im Süden. Von dort aus versuchen die Menschen Richtung Norden in die sogenannte Evakuierungszone bei Al Mawasi südlich von Deir al-Balah zu kommen. Die Leute werden auf sehr engem Raum zusammengedrückt.

    Rachael Cummings ist die Team-Leiterin der Hilfsorganisation „Save the Children“ im Gazastreifen. Sie befürchtet das Schlimmste für die Menschen in der Region.
    Rachael Cummings ist die Team-Leiterin der Hilfsorganisation „Save the Children“ im Gazastreifen. Sie befürchtet das Schlimmste für die Menschen in der Region. © Catherine McGowan / Save the Children | Save The Children

    Gibt es bereits Fälle von Cholera?

    Nein, das nicht. Aber es braut sich ein perfekter Sturm für eine Gesundheitskatastrophe zusammen. Wir sehen eine Zunahme von Durchfallerkrankungen und Lungenentzündungen. In einer solchen Umgebung sind die Kinder diejenigen, die am verletzlichsten sind. Dazu kommt die Nahrungskrise. Kinder sterben an Mangelernährung, weil sie durch Durchfallerkrankungen oder Lungenentzündungen geschwächt sind. Das ist nicht akzeptabel, wenn man sieht, dass vor der ägyptischen Grenze Tausende Lastwagen voller Hilfsgüter stehen.

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    Wie ist die psychische Situation der Menschen?

    Die Menschen sind verzweifelt. Wir haben Familien und Kinder, die vier- fünf- oder sechsmal fliehen mussten. Sie leben in der konstanten Furcht, sich wieder auf den Weg machen zu müssen oder verletzt oder getötet zu werden. Jeder hat Familienmitglieder verloren. Kinder haben ihre Freunde verloren. Sie haben Alpträume, nässen ein. Wir wissen auch nicht, welche Langzeiteffekte das auf die geistige Gesundheit der Kinder haben wird. Wir versuchen, psychosoziale Hilfe anzubieten, aber es ist nur ein Tropfen in einem Ozean.

    Viele Kinder sind durch die Kriegshandlungen verletzt worden. Wie werden sie betreut?

    Tausende Kinder haben Gliedmaßen durch Explosionen verloren. Das ist selbst in Friedenszeiten medizinisch sehr komplex. Kinder haben weiche Knochen, die aber noch wachsen. Die Möglichkeit für Rekonstruktionsoperationen, plastische Chirurgie oder Prothetik sind jetzt aber sehr limitiert. Es gibt viele Fälle von Knochenentzündungen, weil die Wunden nicht sauber gehalten werden können und es gibt nicht genügend Schmerzmittel.

    Zerstörte Häuser nach einem israelischen Luftangriff auf das Lager Nuseirat: Die Lage im Gazastreifen ist verheerend.
    Zerstörte Häuser nach einem israelischen Luftangriff auf das Lager Nuseirat: Die Lage im Gazastreifen ist verheerend. © Abed Rahim Khatib/dpa | Unbekannt

    Der Internationale Gerichtshof hat Israel am Freitag aufgefordert, die Rafah-Offensive zu stoppen. Sind Auswirkungen des Urteils zu spüren?

    Nein. Der Krieg geht weiter. Aus meiner Sicht hat er nicht nachgelassen. Es wird kontinuierlich bombardiert. In Deir al-Balah sind wir an einem relativ ruhigen Ort, verglichen mit anderen Gegenden im Gazastreifen. Aber wir sehen, wie die Kampfjets über unseren Köpfen fliegen, wir hören die Luftangriffe. Man kann sie hören und fühlen. Es gibt auch keine Zunahme der Hilfslieferungen für Gaza.

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    Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock begutachtete Ende März Hilfslieferungen am Grenzübergang Kerem Schalom –und machte deutlich, dass sie eine rasche Zunahme der eingeführten Hilfslieferungen in den Gazastreifen erwarte.
    Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock begutachtete Ende März Hilfslieferungen am Grenzübergang Kerem Schalom –und machte deutlich, dass sie eine rasche Zunahme der eingeführten Hilfslieferungen in den Gazastreifen erwarte. © Christoph Soeder/dpa Pool für Photothek/dpa | Unbekannt

    Das heißt, in Deir al-Balah sind Sie vergleichsweise sicher?

    Am Wochenende ist hier ein Regierungsgebäude bombardiert worden. Alles ist unvorhersehbar. Im Vergleich zu Rafah ist es hier aber ruhiger. Als wir aus Rafah weggegangen sind, war es dort sehr intensiv. Es gibt keinen sicheren Ort im Gazastreifen.

    …wie der jüngste Luftangriff auf ein Flüchtlingscamp bei Rafah bewiesen hat?

    Ja. Wir als Save the Children verurteilen diesen Angriff auf das Schärfste. Unter den Opfern sollen auch Kinder sein. Angriffe auf zivile Infrastruktur müssen unabhängig untersucht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.

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    Können Sie als Hilfsorganisation Ihre Basis verlassen und Hilfe zu den Menschen bringen?

    Ja, wir können Hilfe außerhalb unserer Basis anbieten. Wir haben Versorgungspunkte aufgebaut und Räume für Kinder, um ihnen Sicherheit zu geben. Wenn wir reisen, sprechen wir das mit den israelischen Streitkräften ab.

    Was muss jetzt aus Ihrer Sicht am dringendsten geschehen?

    Das Wichtigste, was wir derzeit brauchen, ist ein Waffenstillstand. Das Zweitwichtigste ist, dass mehr Hilfsgüter hereinkommen, entweder über den Norden oder den Süden. Wir brauchen Lebensmittel, wir brauchen Ausrüstung zur Wasseraufbereitung, wir brauchen Medikamente. Wir brauchen als humanitäre Helfer einen sicheren Zugang zu den Hilfsbedürftigen. Wir müssen Hilfsgüter verteilen können, ohne die Bevölkerung oder unsere Helfer in Gefahr zu bringen.

    Wie erschöpft sind Sie persönlich?

    Ich bin jetzt seit sieben Wochen hier, aber noch sehr motiviert. Unsere wunderbaren lokalen Partner kommen jeden Tag zur Arbeit, obwohl sie in Zelten am Strand leben müssen. Anders als sie kann ich in ein paar Wochen über Kerem Schalom nach Jordanien ausreisen, um mich kurz auszuruhen. Danach werde ich wieder kommen.