Berlin. Seit einem Jahr ist der SPD-Mann Gesundheitsminister – eine Personalie, die damals aus vielen Gründen unumgänglich war.

Karl Lauterbach packt seine Sachen und macht Schluss. Nicht mit dem Ministeramt, nicht mit seiner Lieblingsrolle als schlauster Kopf der deutschen Gesundheitspolitik, nicht als Lieblingsgegner der Querdenker. Der SPD-Mann zieht um: Raus aus dem hässlichen Funktionsbau an der Berliner Friedrichstraße, rein in einen wilhelminischen Prachtbau an der Mauerstraße, in dem einst das DDR-Innenministerium untergebracht war. In den Kartons mit dem Ballast des ersten Amtsjahrs stecken zahllose Gesetze und Verordnungen, viele richtige Vorhersagen – aber auch Irrtümer. Eine Bilanz.

Der Umzug des Ministeriums war nicht Lauterbachs Idee, sondern lange geplant. Am Nikolaustag schreibt er auf Twitter: „Was für eine Woche erneut. Letzter Tag im alten Ministerbüro, alles gepackt, weiter ab nächster Woche im neuen Gebäude Mauerstraße.“ Karl Lauterbach, der Nimmermüde. Dessen Lieblingssatz wie ein Mantra für Marathonläufer klingt: „Es geht immer weiter, immer weiter.“ Der weder Salz noch Zucker isst, dafür aber nächtelang internationale Studien inhaliert. Und damit seine Politik begründet. Es sei „Quatsch“, findet Lauterbach, dass in der Politik der Bauchinstinkt zähle.

Lauterbach: Der Cheftrainer im Team Vorsicht muss Irrtümer eingestehen

Kurz vor dem Umzug, zum ersten Jahrestag der Ampel, reist der Minister in die USA, hält eine Rede in Harvard, wo Lauterbach Gastprofessor ist. Wer ihm auf Twitter folgt, bekommt regelmäßig epidemiologische Kurzvorlesungen. Viele bewundern das, schätzen den Experten im Politiker. Viele sind aber auch genervt, auch in seinem eigenen Haus wünscht sich mancher, der Minister würde mehr Energie aufs politische Management richten.

Beim Koalitionspartner FDP, wo besonders wenige Lauterbach-Fans sitzen, hofft mancher schon auf das politische Aus des strengen Pandemieministers. FDP-Vize Wolfgang Kubicki erklärte jüngst, er gehe nicht davon aus, dass Lauterbach die ganze Wahlperiode im Amt bleibt. Lauterbach juckt das wenig. Nach Jahrzehnten in der Politik weiß der Sozialdemokrat, wann ihm etwas gefährlich werden kann. Ein polternder Kubicki ist es eher nicht.

In der Pandemie war Lauterbach der Cheftrainer im Team Vorsicht. Lange Zeit konnten sich die Deutschen darauf verlassen, dass Lauterbach richtig lag, wenn er vor anrückenden Viruswellen warnte und zur Vorsicht mahnte. Zuletzt gelang ihm das mit seiner Prognose einer Omikron-Sommerwelle. Doch mit Blick auf den Herbst irrte sich der Minister. Es ist nicht sein einziger Irrtum.

Keine Killervariante, aber kollabierende Kinderkliniken

Im dritten Pandemieherbst gingen die Corona-Fallzahlen wie vorhergesagt nach oben, doch es kam weder eine neue „Killervariante“, noch wurden die Kliniken bedrohlich überlastet. Stattdessen wird Deutschland überrollt von einer Welle anderer Atemwegsinfektionen – vor allem die Kinderkliniken gehen gerade reihenweise in die Knie. Man muss kein Experte sein, um das zu vorauszusehen: Seit langem warnen Kindermediziner, dass die saisonalen Viren, vor allem Influenza und RS-Virus, die Kinderheilkunde in den Kollaps treiben werden.

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Auch Lauterbach wusste das, die bessere Ausstattung der Kinderkliniken steht seit langem auf seiner To-Do-Liste. In der akuten Krise aber handelte er erst spät und mit mäßigem Effekt: Lauterbach machte eine Millionenspritze für die Kliniken locker, die aber erst im kommenden Jahr wirkt. Und er appellierte an die Kliniken, Personal von den Erwachsenenstationen umzuschichten, was viele aus purer Not längst tun. Als der Minister in diesen Tagen stolz auf Twitter von seinem Vortrag in Harvard berichtete, hagelte es im Netz Ärger und Spott: Er habe doch wohl zu Hause gerade Wichtigeres zu tun.

Keine Superspreader, aber Kitas im Lockdown

Karl Lauterbach spricht selbst über Irrtümer und Fehler – etwa mit Blick auf die Fallpauschalen in den Krankenhäusern, die er vor 20 Jahren einzuführen geholfen hatte und jetzt wieder weitgehend abschaffen will. Aber auch mit Blick auf die Pandemie: „Natürlich hat jeder Fehler gemacht“, erklärte der Minister jetzt im ZDF. „Mein Vorgänger, ich selbst.“ Aber: „Man muss unterscheiden zwischen einem Fehler und einem neuen Wissen. Zum Beispiel, dass die Kinder keine Superspreader sind.“

Mit dem Wissen von heute seien die Kita-Schließungen nicht notwendig gewesen. „Aus der Sicht von heute war das ein Fehler.“ Es habe in der Pandemie aber „nicht nur Fehler“ gegeben. Deutschland habe viel geopfert, im Vergleich zu anderen europäischen Ländern in der Pandemie aber eine niedrigere Sterblichkeit erreicht.

Einmal Lieblingsminister, immer Lieblingsminister?

Lauterbach ist der erste Minister, der quasi per Volksentscheid ins Amt kam. Nach der Bundestagswahl, im zweiten Pandemiewinter, war der Mediziner so beliebt, dass eine Entscheidung gegen ihn kaum denkbar schien. Doch das änderte sich bereits nach wenigen Monaten. Der Frühling kam, die Deutschen wurden pandemiemüde und unzufrieden mit den Maßnahmen: Lauterbach war nicht mehr der telegene Corona-Erklärer, sondern der Mann, der für Regelwirrwarr und Regierungsstreit stand – und sich selbst korrigieren musste: Unvergessen der Moment, als Lauterbach seinen Plan, die Isolationspflicht zu beenden, spätabends in einer Talkshow zurücknahm.

Und nun? Das Virus, sagt Lauterbach, habe sich in eine Sackgasse mutiert. Er glaube, dass es im nächsten Jahre eine deutliche Verbesserung der Lage gebe. Hoffentlich kein Irrtum.