Alle 16 bis 18 Jahre passiert laut Statistik eine Katastrophe. Doch wie kommen wir darüber hinweg? Die Suche nach einfachen Lösungen reicht nicht aus.
Die Geschichte mit dem Truthahn erklärt einiges. 364 Tage im Jahr kommt ein Mensch und füttert ihn üppig. Der Truthahn sieht im Menschen einen Freund, alle Statistiken sprechen für seine gute Absicht. Dann feiert der Mensch Thanksgiving. Und der Truthahn wird geschlachtet.
Meistens denkt der Mensch wie ein Truthahn. Er gewöhnt sich an einen Alltag, er bewegt sich in seiner Umwelt, sucht die Sicherheit und blendet Risiken aus. Dann plötzlich passiert etwas, das unvorstellbar schien. Das alles Erdenkliche über den Haufen wirft. Der Tsunami in Asien war so ein Ereignis. Auch als 2001 radikalisierte Männer in einer Harburger Wohnung einen Angriff mit Passagiermaschinen auf die New Yorker Twin Towers planten, ahnte das niemand. Unvorstellbar auch, als sich 2011 ein Gemüsehändler in Tunesien aus Frust über die Behörden verbrannte und eine Welle der Revolutionen in der Arabischen Welt auslöste. Vergangene Woche ist offenbar ein Pilot in der Luft Amok gelaufen und hat im Germanwings-Flug nach Düsseldorf 149 Menschen mit in den Tod gerissen. Ein schwarzer Schwan schwimmt jetzt auf unserem See der Gewissheiten.
Schwäne sind weiß. So kennen wir sie, weiße Schwäne ziehen jeden Sommer über die Alster. Im 17. Jahrhundert aber machte der holländische Seefahrer Willem de Vlamingh vor Australiens eine bis dato undenkbare Entdeckung: einen schwarzen Schwan. Seitdem gilt er als Bild dafür, dass das Unwahrscheinliche doch möglich ist. Für den Menschen ist das kein beruhigender Gedanke. Wir lieben das Wahrscheinliche und die einfache Erklärung, weil sie uns Halt geben. Und deswegen schieben wir den schwarzen Schwan lieber schnell wieder zurück ins Dunkle der eigenen Psyche.
Große Unternehmen, Wissenschaftler und Regierungen aber arbeiten mit Szenarien, die sie „Schwarze Schwäne“ taufen, Black Swan Events. Versicherungen entwerfen Modelle, um auf Katastrophen und immense Schäden vorbereitet zu sein. Firmen trainieren mit Hilfe von Rollenspielen unwahrscheinliche Angriffe der Konkurrenz auf eigene Produkte am Markt. Regierungen richten Krisenstäbe ein, in Deutschland bildet ein Bundesamt Feuerwehrleute und Sanitäter für den extremen Notfall aus.
Statistisch treten unvorhersehbare Katastrophen alle 16 bis 18 Jahre ein, sagt der Kieler Krisenforscher Frank Roselieb. Wenn es gut läuft, werden Risiken von Firmen und Staaten minimiert. Aber können Manager und Minister tatsächlich das Undenkbare denken – und darauf vorbereitet sein? 2008 waren sie es nicht. Als die Investmentbank Lehman Brothers pleitegeht, bricht die Finanzkrise aus. Millionen Menschen verlieren Erspartes oder Arbeit. Die Kettenreaktion aus Börsenkollaps und Bankenrettung hatte niemand vorhergesehen.
Oder?
Der Amerikaner Nassim Nicholas Taleb war früher erfolgreicher Börsenhändler an der Wall Street und ist nun Mathematikprofessor in New York. 2007, ein Jahr vor der Krise, sorgt sein neues Buch für Aufsehen. Er warnt davor, sich nur nach den Statistiken der Finanzwelt auszurichten: zu viele Marktteilnehmer, zu hohe Schulden, zu enge Verstrickungen. Die entworfenen Risikomodelle der Analytiker würden die Komplexität nicht erfassen – gerade wenn mehrere Ereignisse parallel eintreten, die Investmentbanker für unvereinbar gehalten hatten.
Sein Buch hatte Taleb „Der Schwarze Schwan“ genannt, Untertitel: „Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse“. Er schrieb auch vom Truthahn und den Menschen, viele belächelten ihn für seine Thesen. Doch als die Krise hereinbrach, machte Taleb an der Börse Millionen. Er hatte in Tausende unterschiedliche Wertpapiere investiert und war gegen Kurseinbrüche in einzelnen Branchen gewappnet.
Hätten wir gewappnet sein müssen für den vergangenen Dienstag? Ein Co-Pilot verriegelt auf fast 12.000 Metern Höhe die Tür zum Cockpit, als der Kapitän gerade weg ist. Dann leitet er den Sinkflug ein. Der Co-Pilot lässt sich nicht beirren von seinem Plan, auch nicht als die Gipfel der Alpen näher rücken und sein Kollege verzweifelt an die Cockpit-Tür hämmert. So jedenfalls soll es gewesen sein im Flug 4U 9525.
Konfliktforscher warnen nun, dass mit der Suche nach den Leichen die Suche der Menschen nach den einfachen Antworten begonnen hat. Die Suche nach den vorstellbaren Erklärungen. Weil es diesen Hang zum Einordnen gibt. So etwa: Schuld war die Krankheit des Co-Piloten. „Diese Krankheit braucht dann am besten noch einen konkreten Namen“, sagt Nikolaus Seibt, Geschäftsführer am Institut für Konfliktforschung und Krisenberatung in München. Diagnose Depression, also. „Und zufrieden sind wir dann, wenn es für die Zukunft sogar einen Test gibt, der dieses Krankheitsbild klar erfasst und in der Auswahl von Flugpersonal eingesetzt werden kann.“
Nach den Anschlägen auf das World Trade Center 2001 sicherten Fluggesellschaften die Cockpit-Türen gegen Entführungen, weil eine Kombination aus Selbstmordattentat und Flugzeugentführung bis dahin nicht gedacht wurde. Nun wurde diese verriegelte Tür zum Verhängnis, und weltweit führen Airlines das Vier-Augen-Prinzip im Cockpit ein. Alles gelöst, oder? Wir sehen wieder weiße Schwäne auf dem See.
„Doch vielleicht ist es nicht so einfach“, sagt Seibt. Ausschließlich depressive Menschen würden keine 150 Menschen mit in ihren Tod reißen. Vielmehr hätten sich unwahrscheinliche Kombinationen von psychischen Erkrankungen des Piloten mit äußeren Einflüssen vermischt. Dazu kam der Einsatzplan des Fluges, der Zufall, dass der Kapitän kurz verschwand. Auch Seibt fordert akribische Suche nach Ursachen. Aber er sagt auch: „Vielleicht müssen wir das Bewusstsein aushalten, dass wir mit unwahrscheinlichen, aber schrecklichen Risiken leben.“
Wir aber wollen kein Opfer von Zufällen sein. Es ist doch viel einfacher, die Finanzkrise als Werk geldgieriger Banker zu erklären. Einfach die Boni kürzen, fertig. Ordnung hergestellt. Das ist die Aufgabe von Krisenmanagern: Ordnung herstellen. Viele Firmen verfolgen eine 80/20-Strategie, sagt Frank Roselieb, Direktor am Institut für Krisenforschung in Kiel. Auf 80 Prozent der Fälle wollen sie sich vorbereiten, auf 20 Prozent nicht – weil es zu teuer ist oder die Ereignisse zu unwahrscheinlich sind.
Krisenforscher wie Roselieb und Seibt beraten Spezialeinheiten der Polizei oder Krisenstäbe von Unternehmen. Seibt ließ Mitarbeiter einer Automobil-Firma einmal ein Szenario durchspielen: Terroristen hacken Computersysteme der Elektroautos und können das Lenkrad steuern. Und nun? Techniker, Manager und Kaufleute sollen an Grenzen des Vorstellbaren gehen. Welche Folge hätte ein Erdbeben im Silicon Valley für Aktienkurse und Wirtschaft? Ein Szenario, das große Vermögensberater durchspielen. In Kalifornien sitzen die mächtigen Konzerne wie Google, Facebook und Apple.
Ereignisse, die auftauchen wie schwarze Schwäne, kann man nicht trainieren. Sie sind nicht vorstellbar, auch nicht in unserer Fantasie. Dennoch hätte man das eine oder andere Ereignis antizipieren können, sagte Hans-Jörg Naumer einmal, Chef-Analyst bei der Allianz. „Es gibt eine Menge grauer Schwäne.“
Lufthansa konnte die Katastrophe in den Alpen nicht verhindern. Die Airline muss die Krise nun managen. Und nach Ansicht von Roselieb machte sie das in den ersten Tagen nach dem Absturz lehrbuchhaft. Lufthansa-Chef Carsten Spohr sei der „ideale Krisenmanager“, sagt Roselieb. Er ist selbst Pilot und Ingenieur. Er kennt den Konzern seit vielen Jahren. „Und er hat graue Haare, das strahlt Seriosität und Wissen aus.“ Gutes Krisenmanagement lebt auch von den richtigen Bildern.
Wie könnte sich dieses Lehrbuch weiterlesen? Eine Woche nach dem Unglück endet laut Krisenforscher Roselieb die „Ad hoc-Phase“, in der Unternehmen Empathie mit den Opfern zeigen. Vor Kameras geben sie Statements. Die Texte dafür liegen meist in der Schublade. Danach beginnt die „Prozess-Kommunikation“, sie dauert Monate: Unternehmen organisieren Trauerfeiern, leiten Konsequenzen bei Technik oder Personal ein, informieren die Medien, entschädigen Hinterbliebene. Stehen die ersten Jahrestage des Unglücks an, beginnt die „Erinnerungs-Kommunikation“. Denn die Horrorbilder bleiben mit der Firma verbunden. Es komme auf nachhaltige Betreuung der Opfer an, sagt Roselieb, auch um Symbole wie Mahnmale, aber immer in Absprache mit den Angehörigen. „Sonst wirkt das wie billige Trauer-PR.“
Nicht jede Krise können wir vorhersehen. Aber eine Krise kann einen Menschen, eine Firma, einen Staat robuster machen. Wenn wir die richtigen Lehren ziehen. „Wir versuchen, Fehler zu vermeiden, statt antifragile Systeme zu bauen, die aus Fehlern lernen können“, schreibt Taleb. Die Natur mache es vor: Menschen haben zwei Nieren, falls eine ausfällt. Ein Staat besteht aus vielen Ameisen, sodass manche sterben können. Bleibt ein Rest Risiko? Ja. Irgendwo da draußen schwimmt ein schwarzer Schwan.