Erstmals hat Bundeskanzlerin Angela Merkel sich nach amerikanischem Vorbild kritischen Fragen des Volkes gestellt. In einem sogenannten Town Hall Meeting nahm die Unionspolitikerin zu unterschiedlichsten Fragen Stellung und zeigte sich dabei sattelfest. Auch Persönliches kam bei der Fragerunde nicht zu kurz. Die Kanzlerin gab sich dabei erstaunlich locker.
Berlin. Baptiste Frize (23) ist über einen Aufruf im Internet „gecastet“ worden, weil er schon einmal bei Maybritt Illner dabei war. Der
Medizinstudent hat auch gleich seine Kommilitonen Nadja Zibulka (22) und Sören Jessen (23) ins Hauptstadtstudio von RTL mitgebracht. Die drei haben „politische“ und keine „bunten“ Fragen vorbereitet. Aber Frize guckt skeptisch: „Ich glaub, wir kommen gar nicht dran.“
Stimmt, denn knapp hundert Bürgerinnen und Bürger sind von RTL und „Spiegel TV“ für die gemeinsame Sendung „Wir wählen" mit Kanzlerin Angela Merkel ausgesucht worden – für 75 Minuten. Vorgaben vom Kanzleramt oder gar Absprache habe es nicht gegeben, versichert Kloeppel. Man habe für das „Townhall Meeting“ Menschen gesucht, „die stellvertretend für viele andere in Deutschland stehen“. Bei „Townhall“ denkt natürlich jeder an Obama. Wie viel Obama kann Merkel? Wird sie Wahlkampf machen oder nur Sachfragen beantworten? Wird das hier eher die Bürgersprechstunde Hohenschönhausen?
Die Kanzlerin im rosafarbenen Blazer wirkt in ihrem Sessel zu erst etwas zurückgenommen, wird aber zusehends gelöster. Was nun aus Opel werde, fragt gleich zu Beginn ein Opel-Arbeiter im Studio, „das Treuhandkonzept von unserem Wirtschaftsminister ist ja so ein bisschen in die Hose gegangen“. Merkel pariert freundlich: Gar nichts sei in die Hose gegangen, man werde die Konzepte der Investoren sehr sorgfältig prüfen, aber erst müsse Opel von General Motors getrennt werden. Sie könne „echt gut verstehen“, dass er Angst bekomme, wenn er morgens in die Zeitung schaue, sagt sie und macht ihm Mut: „Halten sie weiter durch. Sie sind da ja unglaublich motiviert, und das hat uns schon sehr geholfen.“
Für die Banken gebe es einen Rettungsschirm, aber was gebe es für die Leute, die ihre Alters rücklagen durch schlechte Anlageberatung verloren?, will die einschlägig geschädigte Rentnerin Barbara Baumann wissen. Merkel reagiert bodenständig, fragt nach den genaueren Umständen. „Ich rate Ihnen wirklich, Klage einzureichen“, empfiehlt sie schließlich der Frau, und damit die Rechtsberatung „ganz solide ist, gehen Sie am besten zur Verbraucherzentrale.“
Das Bombardement aus den verschiedensten Themengebieten – Steuererhöhungen, Geldprobleme einer Alleinerziehenden, Banker, Gesundheitsmisere – scheint Merkel wenig anzustrengen. So wenig, dass sie schon in der ersten halben Stunde ihre Stärke ausspielt: kurze, schlagfertige Kommentare. Wie er denn eine Familie ernähren solle, fragt der arbeitslose Dennis
Schubart, 21. Merkel bohrt sofort nach. Nein, einen Beruf habe er nicht gelernt, sagt er. „Na, wär doch jetzt vielleicht mal die Stunde, einen zu lernen“, sagt sie. Im Pflegebereich oder in Kindergärten würden dringend Kräfte gebraucht. „Auf eine gut verdienende Frau allein kann man ja auch nicht hoffen“, sagte die Kanzlerin – mit einem ganz leichten Grinsen.
Große Neuigkeiten werden nicht verkündet. Eine Mehrwertsteuererhöhung schließt Merkel aus. Auch von höheren Steuern für Gutverdiener hält sie „nicht so viel“. Die Bürger müssten entlastet werden, aber genauso müsse man die Haushaltsdisziplin wahren: „Die Krise ist noch nicht vorbei. Wenn wir am Tiefpunkt angelangt sind, müssen wir noch den Schwung haben, wieder herauszufinden“, sagte sie. Deutschland müsse „ja wie der da ankommen, wo wir vorher waren“.
Manche Problembereiche sind kaum zu umreißen – etwa die Frage, warum sich immer weniger Ärzte niederlassen. Oder: Warum dürfen Waffen überhaupt privat gelagert werden?, fragte eine Mutter, die ihre Tochter durch den Amoklauf in Winnenden verlor. „Wenn wir alle Waffen an zentralen Punkten lagern würden, wäre das ein unglaubliches Sicherheitsrisiko“, sagte Merkel. Vermutlich wird die Antwort nicht alle befriedigen.
Aber die Kanzlerin will auch nicht um jeden Preis gefallen. Sie hat ein sicheres Gespür für die eigene Glaubwürdigkeit – aber auch für das Bedürfnis der Bürger, mit den eigenen Problemen überhaupt „da oben“ anzukommen. Merkel signalisiert, dass es ankommt. Sie zeigt es nicht sozialarbeiterisch einfühlsam, aber mit einer Art menschelnden Elastizität, die ihren Vorgängern nicht gelang. Das ist ein großes Pfund. Und niemand weiß besser damit zu wuchern als Angela Merkel.