Der “Marsch der Millionen“ wurde am Sonnabend zu einem Marsch der Hunderttausenden. Es ist die größte Demonstration in Israels Geschichte.
Tel Aviv. Sein ambitioniertes Ziel von einer Million Demonstranten hat der „Marsch der Million“ verfehlt. Doch was im Juli als Protest einer einzelnen Studentin gegen zu hohe Mietpreise begann, brachte zum siebten Protestaufruf in Folge landesweit Hunderttausende auf die Straße – für die Organisatoren ein „historischer Moment“. Sie sprachen von 450.000 Demonstranten, die Polizei zählte 300.000 - für das kleine Land mit nur 7,7 Millionen Einwohnern ein beispielloser Erfolg. „Die größte Demonstration in Israels Geschichte“, titelte die Zeitung „Jediot Achronot“ am Sonntag euphorisch.
Die Forderungen der Demonstranten sind laut, aber keineswegs unisono. Längst geht es nicht mehr nur um zu hohe Mieten und fehlenden Wohnraum. Steigende Lebensmittelpreise, eine teure Gesundheitsversorgung und das sich verschlechternde Bildungssystem treiben vor allem den Mittelstand auf die Barrikaden.
„3.000 Schekel (585 Euro) im Monat für den Kindergarten für das erste Kind, und noch einmal 3.000 für das zweite – wovon sollen wir das zahlen?“, macht eine junge Mutter ihrem Unmut Luft. Ihre Forderungen sind einfach: Kürzere Arbeitszeiten, bessere Gehälter, eine niedrigere Steuerlast, einfach „ein besseres Leben und dass ich meinen Mann häufiger zu Gesicht bekomme“. Ein anderer Demonstrant fordert eine stärkere Rolle des Staates: „Endlich weg vom Kapitalismus, zurück zu einer normalen Wirtschaft mit einer sozialen Balance zwischen Arm und Reich.“
Eine Pappfigur des entführten israelischen Soldaten Gilad Schalit neben der roten Che-Guevara-Fahne, eine Videoprojektion mit John F. Kennedy an einer Hauswand: Ein bunter Zug war es, der sich da beispielsweise durch die Boulevards von Israels zweitgrößter Stadt Tel Aviv schob. Junge Menschen überwogen, wenngleich alle Schichten vertreten waren. „Das Volk will Veränderung“ oder: „Bibi, geh' nach Hause“, tönte es an Ministerpräsident Benjamin Netanjahu gerichtet unter rhythmischen Trommelklängen aus der Menge – ein friedliches Volksfest für mehr soziale Gerechtigkeit.
In der Politik zeigen die seit sieben Wochen andauernden Proteste unterdessen erste Wirkungen.„Meine Regierung sieht sich zu echten Veränderungen verpflichtet, um die hohen Lebenshaltungskosten zu senken und soziale Ungerechtigkeiten auszugleichen“, sagte Ministerpräsident Netanjahu. Ein Expertenteam werde binnen zwei Wochen „ernsthafte Empfehlungen zu Veränderungen“ vorlegen.
Eine Einschränkung lieferte er aber gleich mit: Die Regierung werde den Haushaltsrahmen nicht sprengen, deshalb müssten bei der Erfüllung der Demonstrantenwünsche „Prioritäten gesetzt werden“. Doch wenn nur der Hälfte aller Forderungen nachgegeben würde, wäre viel gewonnen, lautet das einhellige Urteil aus der Menge.
Wenig bei den Demonstrationen in Erscheinung getreten sind bislang die Kirchen. Der „soziale Aufschrei“ in Tel Aviv etwa sei für die Christen in Jerusalem und Galiläa „kein Gesprächsthema“, heißt es. Hinzu kommt, dass die landesweit kleine Minderheit im Zentrum der Proteste ohnehin nicht präsent ist. Im katholischen Lateinischen Patriarchat in Jerusalem wird darauf verwiesen, dass die Mehrheit der Gläubigen arabische Wurzeln hat. Diese klagten eher über eine „Delegitimierung der Christen als gleichwertige Mitglieder des Staates“ als über hohe Lebenshaltungskosten oder die schwierige Lage am Wohnungsmarkt – auch wenn sie davon natürlich ebenfalls betroffen seien.