Regierung diskreditiert Demonstranten in Tel Aviv, die nicht weniger als die längst überfällige Reform des Gemeinwesens fordern.
Am Anfang waren sie nicht viel mehr als eine kuriose Fußnote: Studenten, die auf die maßlose Überteuerung des Wohnungsmarkts und auf den akuten Mangel an bezahlbarem Wohnraum in Tel Aviv aufmerksam machen wollten und ihre Zelte auf dem breiten, akaziengesäumten Mittelstreifen des Rothschildboulevards aufschlugen. Doch vor einer Woche wurde aus der Fußnote eine Großdemonstration - mit 250.000 Menschen; in Deutschland entspräche das einer Demonstration mit mehr als zwei Millionen Menschen.
Auch am vergangenen Wochenende trugen wieder Zehntausende junger Israelis ihren Protest auf die Straße. Schon zu Beginn verkannte das politische System in Israel zentrale Charakteristika der Proteste: Als die Zahl der Zelte nicht mehr übersehen werden konnte, verkündete die libertär angehauchte Netanjahu-Regierung, dass die Demonstranten sich aus einer kleinen Gruppe Linksradikaler rekrutierten, deren Ziel es sei, die amtierende Regierung zu stürzen. Dabei sind die Proteste aus einer echten Not geboren und haben keine konkrete politische Strategie. Als der Mittelstreifen des langen Boulevards schließlich - von einer Unmenge an Stoffbehausungen bedeckt - nur noch am Rand begangen werden konnte, musste schließlich eine zweite Reaktion aus Regierungskreisen vernommen werden: Es handele sich bei den Demonstranten um Sushi essende Wasserpfeifenraucher!
Diese bemerkenswerte Einlassung zielte auf eine Diskreditierung der Demonstranten. Es sollte suggeriert werden, dass die Protestler nicht der Mitte der israelischen Gesellschaft entstammten und dass sie diese Mitte auch nicht repräsentierten. Der Arbeiter aus Beer Sheva im Süden und die Sekretärin aus Naharija im Norden, die einer geregelten Arbeit nachgehen und ihre Kinder versorgen, haben - so sollte es die Öffentlichkeit einschätzen lernen - mit dem Yuppie und dem Bohemien aus Tel Aviv, die sich in Selbstmitleid ergehend eine eigene, zur allgemeinen israelischen Kultur parallel existierende Lebensart erschaffen haben, nichts gemein. Und wie zur Unterstreichung dieses erdachten "Schismas" setzte der israelische Außenminister, Haudegen Avigdor Lieberman, eins drauf und verkündete, dass die Not so groß nicht sein könne, wenn er Probleme habe, ohne Reservierung einen Tisch in Restaurants in Tel Aviv zu ergattern. Solche und andere Äußerungen machten den Demonstranten und jedem anderen klar, dass sich die politische Klasse in Israel von den sozialen Realitäten des Landes sehr weit entfernt hat.
Das Gefühl, dass in der israelischen Gesellschaft etwas ganz Grundlegendes nicht stimmen kann, ist jedoch Motor der Proteste. Abstrahiert hören sich die Fragen, die die Demonstranten stellen etwa so an: Müsste es nicht so sein, dass im Zentrum des Staatswesens das Individuum steht und dass alles ihm dient? Müsste es nicht so sein, dass ein freier und demokratischer Staat sich darauf sollte verlassen können, dass jeder gesunde Erwachsene grundsätzlich fähig und willens ist, sich selbst und die, denen er Unterhalt schuldet, zu ernähren? Und müsste es nicht so sein, dass jeder gesunde Erwachsene, der seine Familie ernähren will, sich darauf soll verlassen dürfen, dass der Staat ihn nicht daran hindert und das Ergebnis seiner Arbeit nicht aushöhlt, etwa dadurch, dass er ihm den größten Teil seines Verdiensts wegversteuert?
Die Mehrheit der Israelis hat gelernt, mit einem mit Deutschland vergleichbaren Preisniveau, aber mit nur halbhohen Löhnen "irgendwie" zu überleben. Die Proteste richten sich nun gegen dieses unbestimmte Irgendwie, weil es zur Regel geworden ist. Es scheint sich mehr instinktiv als intellektuell folgende starke Idee durchgesetzt zu haben: Es kann nicht ständig nur um das physische Überleben gehen. Jenseits von Essen und Trinken gehört unbedingt auch die soziale Teilhabe zu dem, worüber jetzt geredet, worum jetzt gekämpft wird. Es geht mithin um eine Anpassung israelischer Realitäten an die Vorstellungswelt eines modernen staatlichen Sozialwesens, eine Vorstellungswelt, die eine kulturelle Errungenschaft ist, weil ihr das Bild des Menschen als soziales und kultiviertes Wesen zugrunde liegt.
Allerdings haben Existenzkriege in Israel eine lange, allgegenwärtige Geschichte, die sich als Hindernis erweist, wenn es um die reale Durchsetzung schöner Ideen geht. Denn angesichts existenzieller Gefahren erscheinen andere Probleme klein. Solange Kugeln fliegen, ist Arbeitslosigkeit zweitrangig. Mein Kind soll vor Terroranschlägen sicher in der Schule ankommen und soll für die Pause eine Scheibe Käse zwischen zwei Scheiben Brot haben - in dieser Reihenfolge. Gute Politik in Israel war und ist daher vor allem eine Politik der nationalen Sicherheit. Bei Randfragen ließ man's jahrzehntelang schleifen. Schleichend ist die Vernachlässigung der Bemühungen um die Ausgestaltung des sozialen Staatswesens zu einem stilbildenden Merkmal israelischer Politik geworden. Begünstigt wurde die Vernachlässigung durch die immediate Notwendigkeit, eine Fülle von Problemen zu lösen, die paradoxerweise klare soziale Bezüge aufwiesen. Weil sie ihrer Dimension nach unfassbar groß waren, wurden diese Probleme jedoch mit derselben pragmatischen Finalität angegangen, mit der sonst Feldzüge geführt werden. Der Staat Israel hat seit seiner Gründung Einwanderungswellen zu bewältigen gehabt, die die demografische Realität des Staates immer wieder vollständig veränderten. Allein in den 90er-Jahren kamen eine Million Einwanderer aus der ehemaligen UdSSR nach Israel. Das entspricht einem Sechstel der damaligen Einwohnerzahl. Plötzlich konnte man in Israel Buchweizen in jeder nur denkbaren Form und Menge in jedem Supermarkt kaufen ...
Ein weiteres drückendes Problem in Israel ist der politische und rechtliche Status der Ultraorthodoxen, die in Israel leben, keinem Beruf nachgehen, ihr Leben komplett dem Studium der Thora widmen, kinderreiche Familien gründen, soziale Leistungen in Anspruch nehmen und dennoch den Staat Israel bekämpfen. Der Staat Israel ist ein "jüdischer und demokratischer Staat". Das verpflichtet. Der Oberste Gerichtshof urteilte zwar weise, dass diese Wendung bedeute, dass der Staat Israel jüdisch sei, wenn und solange dies die Demokratie nicht infrage stellt. Zum Allgemeingut ist dieser Richterspruch bisher aber nicht geworden. Demokratisch ist Israel trotzdem immer gewesen. Nur die Anbindung an das moderne, westeuropäisch geprägte Verständnis von horizontaler und vertikaler Gleichheit der Bürger in ihren Rechten und Pflichten vor dem Gesetz und von sozialer Teilhabe als Konditionen für eine stabile und wahrhaft nachhaltige Demokratie ist in Israel nicht angestrebt und nicht vollzogen worden. Es ging anderes vor. Und so bleibt bis heute die Frage unbeantwortet, wie der Staat mit der Vorstellung der Ultraorthodoxen umgehen solle, dass sie durch Gebet und Studium dem Gemeinwohl dienen und daher von den sozialen Absicherungssystemen profitieren dürfen, obwohl sie zum Bruttosozialprodukt nicht messbar beitragen.
Die Fülle der Ungleichheitstatbestände, die die israelische Realität seit Jahrzehnten durchziehen, lässt sich nur andeuten: Die Siedler in der "Westbank", die den Staat ein Vielfaches dessen, was sie einzahlen, kosten, da ihre Sicherheit nur mit enormem Aufwand gewährleistet werden kann, sind ein Thema für sich; die Tycoons, die ein phänomenales Vermögen angehäuft haben und die von ihrer Macht im kleinen Staat mit den übersichtlichen Wirtschaftsstrukturen überproportional profitieren, sind ein anderes. Aus historischen Gründen fehlen oft rechtliche Sozialausgleichsregelungen oder sie sind lückenhaft. Die aus Großbritannien stammende Nichtregulierung des Wohnungsmietmarkts begünstigte beispielsweise Ungleichheiten. Und auch der Schweif der seit Beginn der 90er-Jahre weltweit immer aggressiver operierenden freien Märkte hat in Israel seine Spuren hinterlassen.
Dabei drücken nicht nur das wirtschaftliche Ergebnis, die Verluste, das Platzen der berühmten Blasen. Schlimmer als alles andere ist die späte Erkenntnis, dass die Krise der Märkte eigentlich eine Kulturkrise ist. Die historische Not der jüdischen Welt bis nach dem Holocaust und die existenzielle Not, in der sich der Staat Israel seit seiner Gründung 1948 befindet, haben eine typisch israelische Haltung hervorgebracht, die einige Generationen maßgeblich geprägt hat und die ich bewundere. Zähne zusammenbeißen, spartanisch leben, an Ideale glauben, die Freiheit wahren und sich gegenseitig helfen - das waren für die Generation meiner Lehrer selbstverständliche Dinge, die in ihrer Welt niemand ohne Weiteres infrage stellen durfte. Das machte besagte Generation zwar nicht frei von Fehlern, aber diese Haltung gab ihr Gesicht. Jedenfalls wusste sie, wo Norden ist.
Wenn Arthur Rubinstein spielte, hielt sie inne - und sie lieferte Daniel Barenboim, Itzhak Perlman und Guy Braunstein dazu. Irgendwann, schleichend, vielleicht schon mit Übernahme der Regierung durch den Likud-Block 1977, begann diese Haltung aufzuweichen. In den letzten Jahren geriet sie dann vollends unter die Räder der globalisierten Hybris und galt plötzlich denen, die auf das große Karussell aufspringen wollten, als veraltet. Fortan gaben in Israel die den Ton an, die Geld hatten und noch mehr Geld anhäufen wollten. Diese Kreise aber nehmen nicht alle auf das Karussell mit und sie liefern in der Regel auch keine Modelle für gerechtes soziales Miteinander. Staatliche Strukturen reagieren immer langsam und der israelische Staat hatte, wie gesagt, wirklich sehr viel zu tun. So fand sich die israelische Gesellschaft im letzten Jahrzehnt in einem Zustand der sozialen Orientierungslosigkeit wieder, dessen auffälligstes Merkmal die dringende Suche nach Identität war, die Suche nach einer Vorstellung von sich. Die Selbstzweifel häuften sich.
Sehnen wir uns nach dem Westen oder sind wir einer regionalen orientalischen Kultur verhaftet? Wollen wir ein religiöser Staat werden oder wehren wir uns dagegen? Wollen wir den Schutz der Menschenrechte kodifizieren und jede Staatsgewalt stets verpflichten, sie zu achten, oder verlassen wir uns auf allgemeine Werte, nach denen wir uns mit Menschenverstand und Verantwortung vor unserer Geschichte zu richten versuchen? Räumen wir Bildung und Kultur einen hohen Stellenwert ein oder gehen wir pragmatisch mit diesen Themen um? Wollen wir uns der Welt öffnen oder misstrauen wir ihr?
Die Demonstranten, die in den letzten Wochen friedlich und ohne jegliche Gewalt (!) auf die Straße gingen, stammen längst nicht mehr nur aus Tel Aviv und sind selbst bei großzügiger Auslegung nicht mehr nur Bohemiens. Es sind die Arbeiter, die Angestellten, die Studenten, die Mütter, die Inhaber mittelständischer Betriebe, die arbeiten wollen und können und die jede Gelegenheit wahrnehmen, um dies zu tun, und die ihre Familien trotzdem mehr schlecht als recht ernähren können. Sie alle äußern ihren Unmut darüber, dass es in Israel Menschen gibt, die nicht arbeiten wollen und die trotzdem ebenso gut oder ebenso schlecht leben wie sie selbst. Sie formulieren ihre Wut darüber, dass es Ausbeutern in ihrer hart erkämpften Heimat zu leicht gemacht wird. Sie sehen, dass ihr freies, pluralistisches und in jeder Hinsicht junges Gemeinwesen aus den Fugen geraten ist, und fordern eine neue, nachhaltige Ausrichtung, die ihnen ethisch gerecht wird. Sie sind nicht verwöhnt und wollen auch nicht verwöhnt werden. Sie fordern sozusagen eine menschenwürdige Normalnull für Israels Gemeinwesen. Sie erwarten eigentlich nur das Schwerste: eine neue Grundlage für das Zusammenleben in einer Heimat, für deren Existenz die meisten von ihnen ihr Leben zu gefährden bereit wären.
Die Fronten in Israel verlaufen (noch) nicht zwischen Parteien. Eine politische Kraft, die in besagtem Sinne für ein neues Israel eintritt, hat sich (noch) nicht gebildet. Jedoch wird mit jedem Tag, der vergeht, klarer, dass die Volksbewegung, die nun unübersehbar und unüberhörbar geworden ist, Historisches bewirken könnte. Es ist von "etwas Großem" die Rede, das aus dem Rahmen der vielen großen Ereignisse fällt, die das kleine Land seit 1948 über sich ergehen lassen musste. Es ist zu früh, um Lehren zu ziehen - sicher. Aber wir dürfen angesichts der Randale in Großbritannien und der 30-prozentigen Kürzung des Kulturetats in Italien und in den Niederlanden nicht so tun, als wüssten wir nicht, dass ein Ausverkauf unserer Kultur einen Ausverkauf unserer Identität bedeutet. Zu unserer Kultur gehören ein menschenwürdiges Dasein, das soziale Teilhabe beinhaltet und eine lebendige, weiterführende Pflege unseres geistigen Erbes. Das ist, das sollte unser Normalnull sein. Die Normalität, der sich Israel nun hoffentlich nähert, darf in Europa nicht preisgegeben werden. Das würde schnell sehr teuer. Wer das nicht begreift - entschuldigen Sie bitte den aus Israel stammenden deutschen Intendanten -, hat keine hohe Meinung von sich.