Rainer Brüderle im Interview über seine neue Rolle in der FDP - und warum er trotz EU-Schuldenkrise weiter Steuersenkungen fordert.
Berlin. Rainer Brüderle ist dabei, sein neues Büro im Jakob-Kaiser-Haus einzurichten - als Nachfolger von Birgit Homburger an der Spitze der FDP-Bundestagsfraktion. Mit dem Hamburger Abendblatt spricht er im Konferenzraum gegenüber. Sein Hauptinteresse gilt den Themen, mit denen er sich bis vor Kurzem als Wirtschaftsminister befasst hat.
Hamburger Abendblatt: Herr Brüderle, vom Bundeswirtschaftsminister zum Vorsitzenden der FDP-Bundestagsfraktion - ist das ein Aufstieg?
Rainer Brüderle: Es ist eine andere Aufgabe, die breiter angelegt ist. Die Bundestagsfraktion ist das Aktionszentrum einer politischen Kraft zwischen den Wahlen.
Wirtschaftsminister, das haben Sie glaubhaft vermittelt, war Ihr politischer Lebenstraum ...
Brüderle: Der Wechsel ist mir nicht leichtgefallen, das sage ich ganz offen. Aber in der Politik geht es nicht um maximale Selbstverwirklichung, sondern um Mannschaftsspiel. Ich bin jetzt der freie Mann vor der Abwehr, der sich auch um den Spielaufbau kümmert. Ich nehme die Herausforderung als Fraktionschef gerne an.
Was kommt als Nächstes? Spielführer?
Brüderle : Spielführer ist Philipp Rösler, unser Parteivorsitzender. Das ist völlig in Ordnung. Wir werden den Neuanfang aus der Fraktion heraus mit Schwung unterstützen.
Was ist neu an der neuen FDP?
Brüderle: Wir werden uns wieder stärker auf unseren Markenkern konzentrieren. Die Wähler müssen wissen, wofür die FDP steht. Wir sind die einzige Partei, die nicht Umverteilung, sondern Eigenverantwortung ins Zentrum ihres Handelns stellt. Der Aufbruch wird von Erfahrenen und viele Jungen gestaltet, zu denen auch die Hamburger Wahlsiegerin Katja Suding zählt.
Die neue FDP hat als Erstes ihre alte Forderung nach Steuersenkungen hervorgekramt. Dabei haben die Bürger längst begriffen, dass es dafür keine Spielräume gibt ...
Brüderle: Hinter unserer Forderung nach Steuervereinfachungen und -entlastungen steht eine Philosophie. Wir wollen eine Balance von Privat und Staat. Die Schuldenbremse zwingt uns dazu, der Haushaltskonsolidierung den Vorrang zu geben. Aber der kräftige Aufschwung wird neue Spielräume für Entlastungen schaffen.
Dann bitte konkret: Welche Entlastungen sind möglich bis zur nächsten Bundestagswahl?
Brüderle: Es geht um die Entlastung der Mitte. Viele Facharbeiter ärgern sich, wenn sie 100 Euro mehr bekommen - und davon 70 Euro abgezogen werden. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass die kalte Progression noch in dieser Wahlperiode abgemildert wird. Die Dividende des schwarz-gelben Aufschwungs muss an die Bürger weitergegeben werden.
Ihre Forderung, den Soli zu senken, hatte eine kurze Halbwertszeit ...
Brüderle: Das werden wir noch sehen. Ich bleibe dabei: Der Solidaritätszuschlag ist eine zeitlich befristete Ergänzungsabgabe. Sie bringt viel mehr ein, als an Zuwendungen in die neuen Bundesländer gehen. Daher ist die Überlegung, den Solidaritätszuschlag zu senken oder abzuschaffen, notwendig. Eine Frage der Solidarität ist das längst nicht mehr.
Die Rettung des Euro könnte den deutschen Staatshaushalt im Extremfall mit annähernd 190 Milliarden Euro belasten. Können Sie da Steuersenkungen verantworten?
Brüderle: Natürlich halten wir die Haushaltskonsolidierung im Blick. Steuersenkungen können das Wirtschaftswachstum und die Wettbewerbsfähigkeit der Euro-Zone stärken.
Teile der Regierungsfraktionen, unter ihnen auch Hamburger FDP-Abgeordnete, rebellieren gegen den neuen Euro-Rettungsschirm. Mit welchen Argumenten wollen Sie Ihre Parteifreunde überzeugen?
Brüderle: Ich habe selbst noch einige Fragen. Die FDP-Bundestagsfraktion sieht beim Rettungsschirm noch dringenden Nachbesserungsbedarf.
An welchen Stellen?
Brüderle: Erstens muss auf europäischer Ebene das Prinzip der Einstimmigkeit gelten. Es darf nicht möglich sein, dass Hilfen aus dem Rettungsfonds gegen den Willen des Hauptgeldgebers Deutschland beschlossen werden. Der Bundeshaushalt ist kein Selbstbedienungsladen für Länder, die in Schwierigkeiten geraten. Zweitens muss der Bundestag an der Entscheidung, anderen Euro-Staaten zu helfen, umfassend beteiligt werden. Das sind die Bedingungen für eine Zustimmung der FDP. Wir werden hart dafür kämpfen, dass der Euro stabil bleibt.
Sehen wir das Geld, das wir Griechenland bereitstellen, jemals wieder?
Brüderle: Aus meiner Sicht kann eine Umschuldung zu einem Zeitpunkt X sinnvoll sein. Aber Griechenland ist kein Protektorat. Die Entscheidung über eine Umschuldung fällt in Athen.
Griechenland lebt über seine Verhältnisse - und Deutschland kommt dafür auf. Kennen Sie Wähler, die das belohnen?
Brüderle: Es ist im deutschen Interesse, dass Europa stark bleibt. Daher sind wir zur Solidarität bereit. Im Gegenzug muss Griechenland alles dafür tun, seine Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Solidarität ist keine Einbahnstraße.
Angela Merkel wird scharf kritisiert, weil sie findet, dass die Südeuropäer länger arbeiten sollten. Verteidigen Sie die Kanzlerin?
Brüderle: Entscheidend ist, dass Griechenland erfolgreicher arbeitet. Eine längere Lebensarbeitszeit kann dazu beitragen. Aber Griechenland ist ein souveräner Staat.
Wäre ein Austritt der Griechen aus der Währungsunion eher Fluch oder eher Segen?
Brüderle: Auch hier liegt die Entscheidung in Athen. Ein Austritt mag zwar technisch möglich sein, aber die Griechen hätten es nach einer Rückkehr zur Drachme erheblich schwerer.
Die FDP ist in den Umfragen wieder unter die Fünf-Prozent-Hürde gefallen. Wo stehen die Liberalen in einem Jahr?
Brüderle: Deutlich besser - wenn wir geschlossen bleiben. Ich halte nichts davon, ständig auf Umfragen zu starren. Wenn man Auto fährt, sollte man auch durch die Frontscheibe und nicht dauernd auf den Tacho schauen.
Was trauen Sie Ihrer Partei bei der nächsten Bundestagswahl zu?
Brüderle: Unser Wahlziel: Die FDP muss kräftig zulegen, damit die schwarz-gelbe Regierung ihre Politik fortsetzen kann.
Andernfalls könnte Angela Merkel mit den Grünen regieren. Oder Jürgen Trittin mit der SPD.
Brüderle: Wir müssen uns anstrengen - und unsere Einzigartigkeit herausarbeiten. Wir sind nicht die Christdemokraten für schlechte Kirchgänger und nicht die Sozialdemokraten für Gewerkschaftskritiker. Wir sind die Freie Demokratische Partei.
Nach welchem Wahlrecht wird 2013 eigentlich gewählt?
Brüderle: Wir sind dabei, die Verfassungsmängel zu beheben. Das Thema ist sehr komplex - und braucht seine Zeit. Die Federführung liegt beim Bundesinnenministerium.
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat der Politik eine Frist bis 30. Juni gesetzt. Wie ernst nehmen Sie diese Vorgabe?
Brüderle: Sehr ernst. Wir führen fraktionsübergreifend Gespräche. Bei etwas gutem Willen aller Beteiligten werden wir rechtzeitig vor der nächsten Bundestagswahl zu einem Ergebnis kommen.
Der frühere Präsident des höchsten deutschen Gerichts, Hans-Jürgen Papier, warnt schon vor einer Staatskrise ...
Brüderle: Herr Papier warnt ja öfter. Das entspricht seiner Tätigkeit als Gutachter.
Für Schwarz-Gelb ist der Zustand ganz praktisch. Solange kein gültiges Wahlrecht existiert, kommt niemand auf die Idee, Neuwahlen anzustreben ...
Brüderle: Union und FDP haben im Bundestag eine große Mehrheit. Wir müssen jetzt handeln.
Welche Vorstellung haben Sie vom neuen Wahlrecht?
Brüderle: Wir sollten nur das korrigieren, was absolut nötig ist. Überhangmandate liegen grundsätzlich in der Logik von Erst- und Zweitstimme. Unser Verhältniswahlrecht hat sich über Jahrzehnte bewährt. Es wird von vielen Ländern als Modell genommen. Darauf sollten wir stolz sein. Ich kann nur davor warnen, kurzfristig an unserem Wahlrecht zu manipulieren.