Schwarzer Tag für Syrien. Das Land erlebt die blutigsten Proteste seit Beginn des Aufstandes. Laut Amnesty International 75 Tote.
Damaskus/Kairo/Beirut. Die Lage in Syrien droht außer Kontrolle zu geraten: Das Regime von Präsident Baschar al-Assad geht mit äußerster Brutalität gegen die immer machtvoller werdende Protestbewegung vor. Heckenschützen des Sicherheitsapparats töteten am Freitag mindestens 35 Demonstranten, berichtete eine Menschenrechtsanwältin in Damaskus. Amnesty International geht von insgesamt 75 Toten aus. Mehr als 100 000 Menschen gingen im ganzen Land auf die Straße, um ein Ende der Gewaltherrschaft zu fordern. Der blutigste Tag seit Beginn der Proteste im Vormonat sah auch eine noch nie gesehene Zahl von syrischen Bürgern, die der tödlichen Gefahr trotzten und Menschenrechte einforderten.
In dem Gemetzel der Sicherheitskräfte geriet nahezu in Vergessenheit, dass Assad erst am Vortag den fast fünf Jahrzehnte geltenden Ausnahmezustand aufgehoben hatte. Auch andere Reformschritte wie die Abschaffung der berüchtigten Staatssicherheitsgerichte und der Erlass eines neuen Gesetzes zur Legalisierung von Demonstrationen wurden von den blutigen Realitäten dieses Freitags eingeholt und überschattet.
Allein in der südlichen Stadt Asraa starben mindestens 18 Demonstranten, unter ihnen ein einjähriges Kleinkind, sagte die Menschenrechtsanwältin in Damaskus. In den Vorstädten von Damaskus wurden mindestens sieben, in der nördlichen Stadt Homs zwei Menschen getötet. In der südlichen Stadt Daraa kam ein Demonstrant ums Leben, mindestens 50 weitere erlitten Verletzungen.
Wo es Tote gab, war das Muster nach Augenzeugen-Berichte immer das selbe: Nicht Polizisten in Uniform feuerten die tödlichen Schüsse ab, sondern Heckenschützen in Zivil, die auf Hausdächern lauerten und willkürlich in die Menschenmengen schossen, um Panik und Furcht auszulösen. In Homs seien dadurch so viele Menschen verletzt worden, dass Ärzte unter den Demonstranten in den Gassen der Altstadt improvisierte Lazarette einrichteten, erzählte eine Augenzeugin der BBC.
Die Regimemedien bezeichneten die Heckenschützen als „unidentifizierte Bewaffnete“. Etliche davon seien von den Sicherheitskräften festgenommen worden, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Sana. Nach Einschätzung der Aktivisten sind aber die Heckenschützen Teil des mächtigen Geheimdienstes. Im Polizei- und Geheimdienst-Staat Syrien ist es unvorstellbar, dass sich Bewaffnete in einer derartigen Zahl und Koordinierung auf den Hausdächern in den Zentren der wichtigsten Städte einrichten können.In Damaskus setzten die uniformierten Sicherheitskräfte Tränengas gegen die Kundgebungsteilnehmer ein, sagten Augenzeugen. Die Demonstranten wollten von mehreren Vorstädten aus ins Stadtzentrum vordringen, wurden aber von Polizei- und Geheimdienstaufgeboten mit Gewalt daran gehindert.
Syrische Oppositionskräfte hatten die Aufhebung des Ausnahmezustands und andere Reformmaßnahmen Assads zunächst vorsichtig begrüßt. „Es ist ein positiver Schritt, dessen Umsetzung aber genau zu beobachten ist“, sagte der Chef der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London, Rami Abdul Rahman, am Donnerstag.
Tatsächlich kam der syrische Staatschef mit der Aufhebung des Ausnahmezustands einer zentralen Forderung der Demonstranten entgegen. Die kriegsrechtsähnliche Gesetzgebung hatte es dem Regime unter Assad und zuvor unter seinem Vater Hafis ermöglicht, Bürger willkürlich zu verhaften und jede politische Opposition mit behördlichen und geheimdienstlichen Mitteln zu verfolgen.
Vor den nunmehr abgeschafften Staatssicherheitsgerichten hatten die Angeklagten nur sehr eingeschränkte Verteidigungsmöglichkeiten. Zudem wurden ihnen in der Polizei- und Geheimdiensthaft, die diesen Prozessen vorausging, häufig Geständnisse unter Folter abgepresst. Doch wie die Eskalation der Gewalt am Freitag zeigte, dürften die neuen Maßnahmen des Präsidenten zu spät gekommen sein.
Denn die Gewalt der Sicherheitskräfte, der seit Beginn der Proteste nun schon rund 300 Menschen zum Opfer fielen, hat die Demonstranten radikalisiert. Verlangten die Proteste bislang nur echte Reformen und Freiheiten, so dominierten am Freitag bereits die Forderungen nach dem Rücktritt Assads und nach einem Regimewechsel.
Auch gingen die Demonstranten nunmehr gezielt gegen die Symbole der Assad-Diktatur vor. In Damaskus etwa wurde, wie auf Oppositions-Webseiten zu sehen war, eine Statue von Hafis Assad gestürzt und mit Füßen getreten. Der ältere Assad hatte mit seinem Putsch im Jahr 1963 die gegenwärtige Familienherrschaft begründet. Solche Szenen wären noch vor vier Wochen undenkbar gewesen, meinten Beobachter.
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Mord an syrischen Offizieren als angebliches Geheimdienst-Szenario
Unerkannt schlugen sie zu. Bei ihrem Überfall im Morgengrauen erschossen Unbekannte Oberst Mohammed Abdu Chaddur, seine zwei Söhne und einen Neffen, alle drei im Kindesalter. Um ihre Tat noch grauenhafter erscheinen zu lassen, verstümmelten sie die Leichen. Die staatliche Nachrichtenagentur Sana schrieb das Blutbad in der syrischen Stadt Homs am vergangenen Sonntag einer „bewaffneten Bande“ zu. Wirkliche mutmaßliche Täter präsentierten die syrischen Behörden bislang nicht – auch nicht im Fall zweier weiterer Militärs, die mit Chaddur im 11. Armeebataillon in Homs dienten und ebenfalls erschossen wurden.
Der 47-jährige Oberst erhielt ein Staatsbegräbnis erster Klasse, als er in seinem Geburtsort Berat al-Dscherd in der benachbarten Provinz Hama als „Märtyrer“ beigesetzt wurde. Tausende erwiesen dem Offizier die letzte Ehre, mit syrischen Fahnen und Postern, die den Präsidenten Baschar al-Assad zeigten.
Aber wer sind die geheimnisvollen Mörder? Das von wochenlangen Protesten bedrängte Regime von Assad lässt es bei Andeutungen bewenden: vom Ausland gesteuerte Verschwörer, Islamisten, „fanatische Terroristen“. Doch in Homs waren die Proteste gegen den Polizei- und Geheimdienststaat erst am vergangenen Wochenende richtig hochgekocht, die Sicherheitskräfte hatten 14 Demonstranten erschossen.
Oppositionelle tischten deshalb eine ganz andere Erklärung für die mysteriösen Morde auf. Die Offiziere seien von Geheimdienst-Kommandos getötet worden, weil sie nicht auf die Demonstranten schießen wollten oder zur Opposition übergelaufen waren. Die grausame Ausführung der Taten sollte den Verdacht auf Terrorgruppen lenken. Der lokale Oppositionspolitiker Mahmud Issa sagte am Dienstag im arabischen Fernsehsender Al-Dschasira, er wisse, wer die Mörder Chaddurs seien. Der Geheimdienst holte ihn umgehend ab, er ist seitdem verschwunden.
Das Assad-Regime zieht alle Register, um angesichts der landesweiten Proteste sein Überleben zu gewährleisten. Die blutige Unterdrückung der Demonstrationen mit bislang rund 250 Toten geht einher mit – späten – politischen Zugeständnissen: Am Donnerstag hob der Präsident den seit 48 Jahren geltenden Ausnahmezustand auf und liberalisierte das Versammlungsrecht. Hunderttausende staatenlose Kurden erhielten zu Monatsbeginn nach Jahrzehnten des Wartens die syrische Staatsbürgerschaft.
Doch in Syrien bestimmen in erster Linie die weit verzweigten Geheimdienste den Gang der Dinge. Ein der Opposition zugespieltes Dokument aus der Giftküche der Staatssicherheit – dessen Echtheit freilich nicht zweifelsfrei bestätigt ist – wirft ein irritierendes Schlaglicht auf die Denk- und Arbeitsweise dieses machtvollen und jeder zivilen Kontrolle entzogenen Gewaltapparates.
Der mit 23. März 2011 datierte angebliche Master-Plan der Geheimdienst-Führung (Vermerk: „Streng geheim“) entwirft eine perfide Strategie, um das Regime vor den eben anlaufenden Protesten zu schützen und nicht die „Fehler“ zu wiederholen, die zu den Umstürzen in Tunesien und Ägypten geführt hatten. „Die Anti-Regime-Demonstrationen und -Proteste sind auf das Konto von in der syrischen Bevölkerung verhassten Figuren, darunter notorisch bekannte Saudis und Libanesen, zu schreiben und mit dem Zionismus in Amerika und Israel in Verbindung zu bringen.“ Journalisten sollten von den Protesten ferngehalten werden.
Das Szenario sieht noch ganz andere menschenverachtende Schachzüge vor als nur mediale Desinformationskampagnen. So sollten gegen die Demonstranten vor allem Heckenschützen in Zivil eingesetzt werden. Dabei sollten aber „nie mehr als 20 Personen (auf einmal) getötet werden, weil dies sonst leichter bemerkt und thematisiert werden könnte, was Situationen einer ausländischen Intervention nach sich ziehen könnte“.
Das angebliche Geheimdienst-Dokument war noch vor der Ermordung der Offiziere in Homs auf Webseiten der Opposition aufgetaucht. Insofern scheint die anschließende Passage ein bezeichnendes Licht auf die Vorgänge zu werfen: „Darüber hinaus ist es akzeptabel, einige Sicherheitsagenten oder Armeeoffiziere zu erschießen, um den Feind weiter zu täuschen und (...) Feindschaft zwischen den Protestierenden und der Armee zu schüren.“
(Mit Material von dpa/dapd)