Das Notstandsgesetz gilt seit dem Jahr 1963. Der syrische Staatschef zeigt sich bestürzt über die Todesopfer bei den Protesten.
Damaskus/Kairo. Der syrische Staatschef Baschar al-Assad hat am Sonnabend die bevorstehende Aufhebung des seit 1963 geltenden Ausnahmezustands angekündigt. „Jene Gesetze, die es ermöglichen, den Ausnahmezustand aufzuheben, sollten nächste Woche vorliegen“, sagte er in einer Ansprache auf einer Regierungssitzung, die vom staatlichen Fernsehen übertragen wurde. Zugleich betonte Al-Assad die Notwendigkeit politischer Reformen, darunter neuer Parteien-, Demonstrations- und Mediengesetze. „Die Wünsche der Menschen müssen für diese Regierung im Zentrum stehen“, sagte er.
Ungeachtet dessen gingen in der im Süden gelegenen Stadt Daraa Zeugen zufolge am Sonntag wieder Zehntausende auf die Straße und riefen: „Wer sein eigenes Volk tötet, ist ein Verräter„. Andere bekundeten: „Das Volk will das Regime stürzen„ - der Schlachtruf, den auch die Menschen in Ägypten und Tunesien während der dortigen Proteste gerufen hatten.
Auch in der ebenfalls im Süden gelegenen Stadt Suweida gingen am Sonntag nach Angaben von Augenzeugen rund 300 Menschen auf die Straße und sangen „Gott, Syrien, Freiheit„, bevor Sicherheitskräfte mit Knüppeln gegen sie vorgingen und mehrere von ihnen verletzten. Aufgrund der strengen Medienkontrolle in dem Land konnten die Berichte nicht von unabhängiger Seite bestätigt werden.
Al-Assad sprach zu Beginn der ersten Sitzung am Sonnabend des von ihm umgebildeten Kabinetts. Es gehe darum, „die Kluft zwischen dem Staat, seinen Institutionen und seinen Bürgern zu schließen“, schärfte er den Ministern ein. Die Menschen hätten „Anliegen und Forderungen“, die es zu berücksichtigen gelte. Darüber müsse ein „nationaler Dialog“ geführt werden. Die Überlegungen sollten auch ein – nicht näher konkretisiertes – „Mehrparteienprinzip“ einschließen. Derzeit ist die „führende Rolle“ der allein herrschenden Baath-Partei in der syrischen Verfassung festgeschrieben.
Der Präsident ging auch auf die Demonstrationen für mehr Demokratie und Freiheit ein, bei deren Niederschlagung die Sicherheitskräfte nach Schätzung von Menschenrechtsaktivisten bis zu 250 Menschen getötet haben. „Wir betrachten sie alle als Märtyrer, ob sie nun Zivilisten, Polizeibeamte oder Armeesoldaten waren“, sagte Al-Assad. „Blut, das in Syrien vergossen wurde, schmerzt jeden Syrer.“
Die Ansprache fiel nach Ansicht von Beobachtern zurückhaltender und versöhnlicher aus als Al-Assads Rede vor zweieinhalb Wochen im syrischen Parlament. Dennoch blieb unklar, wie weit die in Aussicht gestellten politischen Reformen eine echte Demokratisierung oder nur eine weitere Variante der strikten Lenkung von oben anpeilen. Auch wird befürchtet, dass die geplanten Anti-Terror-Gesetze, die den Ausnahmezustand ablösen sollen, weiterhin nahezu unbeschränkte Vollmachten für den diktatorischen Sicherheitsapparat vorsehen werden.
Auch die letzte Regierungsumbildung fiel eher kosmetisch aus. Neuer Ministerpräsident ist der bisherige Landwirtschaftsminister Adel Safar. Neuer Innenminister wurde der Geheimdienstler Mohammed Ibrahim Schaar. Das Verteidigungsressort wurde nicht umbesetzt. All dies deutet auf die ungebrochene Kontinuität der Vormachtstellung der Geheimdienste und anderer Sicherheitsorgane in der syrischen Macht-Architektur hin.
Tausende Menschen demonstrierten indes am Samstag in der nordwestsyrischen Stadt Banias für mehr Freiheit und Demokratie. Der Protest entwickelte sich aus dem Begräbnis für einen 40-jährigen Mann, der an den Schussverletzungen starb, die ihm Sicherheitskräfte bei einer Demonstration vor knapp einer Woche zugefügt hatten, berichteten Aktivisten in der Stadt. Auch Parolen gegen die herrschende Baath-Partei wurden gerufen. Die Sicherheitskräfte griffen diesmal nicht ein.
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Etwa zwei Wochen nach dem Rücktritt der syrischen Regierung ist ein neues Kabinett gebildet worden. Das Staatsfernsehen berichtete, der frühere Agrarminister und designierte Ministerpräsident Adel Safar habe eine neue Regierung gebildet. Obwohl Präsident Baschar el Assad hunderte gefangene Demonstranten aus der Haft entließ, hielten die gewalttätigen Proteste in der Hafenstadt Banias an.
30 Minister gehören der neuen Regierung an. Die Nachrichtenagentur Sana veröffentlichte ihre Namen. Demnach bleiben einige wichtige Posten unverändert, darunter das Verteidigungsministerium, das bei Ali Habib verbleibt, und das Außenministerium unter Führung von Walid Muallem. Innenminister soll General Mohammed Ibrahim el Schaar werden.
Safar und seine Regierung sollen von den syrischen Behörden zugesagte Reformen wie die Aufhebung des seit dem Jahr 1963 geltenden Notstandsgesetzes und Fortschritte bei der Pressefreiheit umsetzen. Die Regierung von Nadschi Otri war am 29. März unter dem Druck wochenlanger Proteste gegen die Staatsführung zurückgetreten. Per Dekret beauftragte Assad Safar mit der Bildung eines neuen Kabinetts.
Wie das Staatsfernsehen berichtete, entschied Assad, die meisten der seit dem Beginn der Proteste festgenommenen Demonstranten freizulassen. Nur diejenigen, die Straftaten „gegen den Staat und seine Bürger“ begangen hätten, sollten weiter in Haft bleiben. Wie viele Gefangene entlassen werden wollten, wurde nicht berichtet.
Begonnen hatten die Unruhen Mitte März in Daraa im äußersten Süden des Landes. Die Proteste griffen auch auf andere Städte über, nachdem es zu blutigen Zusammenstößen mit der Polizei gekommen war. Die Hafenstadt Banias war seit Sonntag Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen. Hier wurde laut Sana am Donnerstag ein Soldat von „Freischärlern“ getötet.
Nach Angaben des Auswärtigen Amtes trafen der deutsche Botschafter sowie die Botschafter aus Frankreich, Italien und Spanien am Donnerstag in Damaskus den syrischen Außenminister Walid el Muallim zu Gesprächen über die Lage im Land. Dabei verurteilten sie die Gewalt in Syrien und forderten die Regierung zu „glaubwürdigen politischen Reformen“ auf.
Zugleich wurden in Banias und weiteren Ortschaften der Region hunderte Festgenommene wieder auf freien Fuß gesetzt. Einige der Freigelassenen hätten anschließend angegeben, gefoltert worden zu sein, erklärte das syrische Observatorium für Menschenrechte. Andere hätten gesagt, festgenommen worden zu sein, obwohl sie nicht an Demonstrationen teilgenommen hätten. Das 280 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Damaskus gelegene Banias ist seit Sonntag von der Armee umstellt. (dpa/AFP/abendblatt.de)