Die Assange-Story hat Kinoformat. Gestern schrieb Interpol den WikiLeaks-Gründer zur Fahndung aus. Der Vorwurf: Vergewaltigung.
Berlin. Die verräterisch hellen Haare hat er sich schon vor Wochen gefärbt. Denn Julian Paul Assange ist auf der Flucht, und er hat auch allen Grund, Angst zu haben. Nicht nur, weil er seit gestern mit internationalem Haftbefehl von Interpol gesucht wird, sondern weil es Leute gibt, die es am liebsten sähen, wenn er eliminiert würde. Leute wie Tom Flanagan. Der Berater des kanadischen Premierministers hat Assange am Dienstag in einem Interview mit dem Fernsehsender CBC gewissermaßen für vogelfrei erklärt. O-Ton: „Ich wäre nicht unglücklich, wenn er verschwinden würde.“ Wer das gesehen hat, möchte nicht in der Haut des 39-Jährigen stecken. Wer das gesehen hat, ist sofort bereit, an ein Komplott von internationalem Kaliber zu glauben.
Wer ist dieser Australier, dessen Eltern einst ein Wandertheater betrieben?
Vermutlich wird man die Assange-Story irgendwann im Kino sehen. Das Drehbuch scheint sich in diesen Tagen jedenfalls wie von selbst zu schreiben. Es ist die Geschichte eines Mannes aus Townsville, Australien, der im April einen Krieg mit den Amerikanern anfing. Nach dem Motto: „Organisationen können entweder effizient, offen und ehrlich sein, oder sie können geschlossen, konspirativ und ineffizient sein.“ Damals veröffentlichte Assange auf der von ihm mitgegründeten Internet-Plattform WikiLeaks ein geheimes Video aus dem Irak-Krieg, das zeigte, wie Zivilisten in einem Vorort von Bagdad von US-Kampfhubschraubern unter Beschuss genommen und getötet wurden. Auch die Kommentare der Soldaten waren zu hören: „Hübsch!“, „Gut geschossen!“ Der Film überführte die amerikanische Militärführung eindeutig der Lüge, die bis dahin steif und fest behauptet hatte, die Hubschrauber-Crews seien zuvor angegriffen worden.
Eine „couragierte Quelle“ habe WikiLeaks das Material zugespielt, sagte Assange damals. Wenig später fühlte er sich offenbar nirgendwo mehr sicher und begann, aus dem Koffer zu leben. Geplante Auftritte in den USA sagte er ab, in Europa fühlte er sich nach eigenen Worten „beobachtet“. Wenig später überschlugen sich die Ereignisse. Im Juli entschloss sich Assange, auf WikiLeaks Zehntausende von US-Militärakten über den Krieg in Afghanistan zu veröffentlichen, im August wurde er in Schweden mit einem Haftbefehl konfrontiert. Er habe, hieß es, zwei Frauen sexuell belästigt beziehungsweise vergewaltigt. Dass dieser Haftbefehl bereits einen Tag später wieder aufgehoben wurde und Assange öffentlich beteuerte, niemals etwas Unehrenhaftes getan zu haben, und erstmals von schmutzigen Tricks sprach, sorgte nur für eine Atempause. Anfang September wurde der Haftbefehl erneuert.
Danach sah man immer mal wieder, wie Assange um seine Reputation kämpfte. In kurzfristig und fast schon konspirativ anberaumten Interviews, in denen er die Vorwürfe der Ermittler als beunruhigend und bodenlos bezeichnete und erklärte, das Vertrauen in das schwedische Rechtssystem verloren zu haben. Sichtlich müde wirkte der WikiLeaks-Chef bei diesen Gelegenheiten, aber erstaunlich gefasst.
Sogar die Nachricht, dass Schweden am 20. November bei Interpol einen Antrag auf internationalen Haftbefehl gestellt habe, zwang Assange nicht in die Knie: Am vergangenen Sonntag stellte WikiLeaks 250000 Dokumente ins Netz, die die quasi-kriminellen Aktivitäten amerikanischer Botschaften belegen. Am Dienstag meldete sich Assange von einem unbekannten Ort aus über das Internettelefon Skype beim „Time Magazine“ und forderte US-Außenministerin Hillary Clinton für den Fall zum Rücktritt auf, dass sie ihre Diplomaten tatsächlich zur Spionage bei den Vereinten Nationen aufgerufen haben sollte. 24 Stunden später schrieb Interpol Assange in 188 Staaten zur Fahndung aus.
Im April fing Julian Paul Assange seinen Krieg mit den Amerikanern an
Wer ist dieser schlaksige Australier, dessen Eltern ein Wandertheater betrieben und der Physik studierte, bevor er sich ganz der modernen Aufklärung verschrieb – koste es, was es wolle, und sei es das eigene Leben? Ein rücksichtsloser Querulant oder romantischer Weltverbesserer? Ein Wahrheitsfanatiker oder ein Don Quijote? Für Anfang 2011 hat Assange die Veröffentlichung geheimer Dokumente aus einer noch nicht näher benannten amerikanischen Großbank angekündigt. Dieses „MegaLeak“ werde „das Ökosystem der Korruption“ offenlegen, hat er gesagt. Das US-Magazin „Forbes“, das Assange jüngst eine Titelgeschichte widmete, sieht in dem Mann einen „moralischen Idealisten“. Einen „Meister der Offenheit“. Aber auch einen „Kontrollfreak“.
Fest steht, dass die Welt für Julian Paul Assange in den letzten Stunden klein geworden ist. Sehr klein. Wer steckbrieflich von Interpol gesucht wird – „Wenn Sie irgendeine Information haben, nehmen Sie Kontakt zu Ihrer nationalen oder lokalen Polizeibehörde auf“ –, steht mit dem Rücken zur Wand. Björn Hurtig, der schwedische Anwalt von Assange, weiß das auch. Er hat gestern nicht nur Beschwerde gegen diesen Vorgang eingereicht, sondern auch die sofortige Aufhebung des Haftbefehls beantragt. Assanges Mutter sagte im australischen Rundfunk besorgt, sie wolle nicht, dass Jagd auf ihren Sohn gemacht werde.