Weil er für die Nazis im Vernichtungslager Sobibor gut 28.000 Menschen in die Gaskammern getrieben haben soll, wurde der Ukrainer John Demjanjuk vom Landgericht München verurteilt.
München. Der frühere KZ-Wachmann John Demjanjuk ist der Beihilfe zum vieltausendfachen Mord an Juden schuldig: Das Landgericht München verurteilte den 91-Jährigen nach eineinhalbjährigem Prozess am Donnerstag zu fünf Jahren Haft. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der gebürtige Ukrainer im Zweiten Weltkrieg Teil des Machtapparats der Nazis war und sich bereitwillig am Massenmord an den Juden beteiligte, wie Richter Ralph Alt in seiner Urteilsbegründung erklärte. Als Kriegsgefangener hat Demjanjuk demnach den Nazis 1943 im Vernichtungslager Sobibor in Polen geholfen und gut 28.000 Menschen in die Gaskammern getrieben.
Allerdings revidierte das Gericht kurz darauf das Urteil und hob den Haftbefehl gegen Demjanjuk auf. Demnach wird der frühere KZ-Wachmann trotz Verurteilung zu fünf Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen. Nach genau zwei Jahren in Untersuchungshaft in München sei eine weitere Zeit im Gefängnis für den 91-Jährigen nicht verhältnismäßig, sagte Richter Ralph Alt. "Der Angeklagte ist freizulassen.“ Dementsprechend werde der Haftbefehl gegen ihn aufgehoben. Mit dem Urteil des Landgerichts München bestehe keine Gefahr mehr, dass sich Demjanjuk seinem Prozess entziehe. Zudem sei er staatenlos und könne Deutschland nicht einfach verlassen.
Demjanjuk hatte zuvor die Urteilsverkündung ohne sichtbare emotionale Regung verfolgt. Während der Urteilsverkündung saß er in einem Rollstuhl, die anschließende ausführliche Begründung der Kammer verfolgte er – wie zuvor weite Teile des Prozesses – liegend in einem im Gerichtssaal aufgestellten Bett. Auf ein Schlusswort verzichtete er.
Der vermutlich letzte große Prozess um Nazi-Verbrechen hatte sich wegen immer neuer Beweisanträge der Verteidigung hingezogen. Sie hatte einen Freispruch gefordert und argumentiert, es gebe keinen Beweis für die Vorwürfe. Das Gericht blieb mit dem Urteil leicht unter der Forderung der Staatsanwaltschaft. Diese hatte sechs Jahre Haft beantragt.
Richter Alt sagte, Helfer wie Demjanjuk hätten in den Konzentrationslagern der Nazis eine wichtige Rolle gespielt. In Sobibor wurden laut Anklage mindestens 250.000 Juden umgebracht, obwohl es nur rund 20 SS-Leute dort gab. Demjanjuk sei in Sobibor als Wächter mit der Dienstnummer 1393 registriert gewesen. "Er wusste von Anfang an ganz genau, was in den Lagern geschah“, sagte Alt. An seiner Schuld bestehe kein Zweifel. Ein Notstand habe für ihn nicht bestanden.
Nebenkläger: Urteil stellt Gerechtigkeit her
Demjanjuks Verteidiger Ulrich Busch kündigte an, beim Bundesgerichtshof (BGH) in Revision gehen zu wollen. Der BGH werde dieses Urteil "ziemlich sicher aufheben“. Es werde nicht der Logik des Landgerichts folgen und einen konkreten Beweis verlangen. Als Beweismittel hatten die Ermittler unter anderem den Dienstausweis Demjanjuks vorgelegt. Zudem wurde betont, dass er als bewaffneter Wachmann hätte fliehen können.
Holocaust-Überlebende und deren Angehörige, die im Prozess als Nebenkläger auftraten, begrüßten das Urteil. Sie sprachen von einer Genugtuung. "Mit dem Urteil wurde Gerechtigkeit hergestellt“, sagte Nebenkläger-Anwalt Cornelius Nestler. In der deutschen Rechtssprechung sei dies eine neue Dimension. Jeder Helfer in Nazi-Vernichtungslagern müsse Ermittlungen fürchten. Wächtern werde mit dem Urteil generell Beihilfe zum Mord attestiert.
Die Verteidigung hatte argumentiert, dass die deutschen Befehlsgeber nach dem Weltkrieg kaum oder nur milde bestraft wurden, nun aber ausländischen Kriegsgefangenen der Prozess gemacht werde. Demjanjuk hatte sich in Erklärungen selbst als Opfer bezeichnet, der erschossen worden wäre, wenn er nicht den Befehlen der Nazis gehorcht hätte. Historiker hatten diese Darstellung bestritten. Verteidiger Busch sagte, sein Mandant empfinde das Urteil als Unrecht. Das Gericht sei von Anfang an befangen gewesen.
Elan Steinberg, der Holocaust-Überlebende aus den USA vertritt, entgegnete, um Gerechtigkeit zu erreichen, dürfe es keine zeitlichen oder geografischen Grenzen geben. Demjanjuk habe lange genug das Rechtssystem manipuliert. Der mittlerweile Staatenlose hatte nach dem Weltkrieg lange in den USA gelebt.
1988 war er aber in Israel zum Tode verurteilt worden. Er wurde damals für "Iwan den Schrecklichen“ gehalten, einen im KZ Treblinka für seine sadistischen Taten berüchtigter Aufseher.
1993 hob Israels Oberstes Gericht das Urteil wieder auf und sprach Demjanjuk frei. Er kehrte in die USA zurück.
Das Simon-Wiesenthal-Center erklärte nach dem Schuldspruch, das Gericht habe die jahrzehntelange Verschleierung Demjanjuks demaskiert und den 91-Jährigen mit der fünfjährigen Haftstrafe de facto zu Lebenslänglich verurteilt. Der Vorsitzende des Jüdischen Weltkongresses, Ronald Lauder, erklärte, der Spruch zeige, dass es nie Straffreiheit oder einen Schlussstrich für diejenigen geben könne, die an den Massenverbrechen der Nazis beteiligt waren.
Unklar ist aber noch, wie lange Demjanjuk tatsächlich im Gefängnis bleiben muss. Er sitzt seit seiner Auslieferung aus den USA vor zwei Jahren in München in Untersuchungshaft. Sein Verteildiger fordert eine baldige Entlassung und verweist auf Demjanjuks Alter und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Ihm könnten weitere Anklagen in den Niederlanden und Spanien drohen.