Hamburg. François-Xavier Roth spricht im Podcast des Hamburger Abendblatts über Experimente, Provokationen und prominente Kollegen.
Tournee-Alltag, das heißt: Nach dem Konzert ist schon wieder vor dem Konzert. Am Morgen nach dem Elbphilharmonie-Auftritt mit dem Mahler Chamber Orchestra – das erste seiner drei Hamburger Konzerte in dieser Saison – zwackt der französische Dirigent François-Xavier Roth zwischen dem Sonntagsfrühstück im Hotel Westin und dem Zug nach Berlin noch etwas Zeit ab. Leicht vergrippt, aber hellwach ist der gebürtige Pariser.
Roth ist Ex-Flötist, der Vater ist Organist, der Bruder Geiger. Roths Spezialität: Er hat keine, denn ihn interessiert so ziemlich alles. „Wir spielen neue Musik aus allen Zeiten“, sagte er einmal. Mit seinem Originalklang-Ensemble Les Siècles räumt er regelmäßig Preise und Kritiker-Lobeshymnen ab. Als Kölner Generalmusikdirektor und Gürzenich-Chefdirigent kombiniert er gern Klassiker mit Raritäten, Altes mit Neuem, je gewagter, desto besser.
Hamburger Abendblatt: Wenige Tage vor Ihrem Konzert gab es hier ebenfalls Haydns Sinfonie „Mit dem Paukenwirbel“. Aber bei der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen mit Paavo Järvi klang sie ganz anders. Wie kann das sein? Und erzählen Sie mir jetzt bitte nicht, das läge daran, dass Sie Franzose sind und Järvi Este.
François-Xavier Roth: Das hat überhaupt nichts mit Nationalität zu tun, sondern damit, wie wir die Musik studieren und die Partitur lesen, daraus ergibt sich eine Interpretation, und am Ende steht das Konzert. Als Musiker macht man eine Reise.
Aber Sie waren auf einer ganz anderen Strecke unterwegs.
Roth: Das ist normal. Man kann nicht von einer definitiven Wahrheit sprechen. Für uns auf der Bühne muss es am Abend des Konzerts eine Wahrheit sein.
Ihr Lebenslauf liest sich, als ob Sie sich fürchterlich schnell langweilen – Sie sind in vielen unterschiedlichen Stilrichtungen unterwegs, haben mehrere Orchester. Sie machen eigentlich fast alles von Barock bis Avantgarde.
Roth: Ich bin total gegen Routine, die ist sehr gefährlich. Und hätte ich weniger oft Lachenmann getroffen oder mehr Monteverdi musiziert, wäre ich ein anderer Musiker. Wenn andere sich auf eine bestimme Epoche fokussieren, respektiere ich das total. Das ist ein anderes Musizieren.
Es muss extrem anstrengend, aber auch angenehm sein, sich immer wieder auf andere Klangwelten einzustellen. Ein Barock-Orchester sollte tunlichst ganz anders klingen als eines für Wagner. Sehr schwierig.
Roth: Ja, aber auch unglaublich interessant, wie man einen Klang baut, durch eine Reise. In Köln ging es durch Schumann zu Bruckner. Wenn ich mit meinem Orchester Les Siècles Zeitgenössisches von Boulez spiele, geht es durch Rameau und Gluck, und danach durch Debussy zu Boulez.
Mit diesem Orchester spielen Sie Repertoire mit Instrumenten genau aus der jeweiligen Entstehungszeit. Wie läuft das praktisch? Die Bläser suchen in Museen für beispielsweise ein Berlioz-Stück passende Fagotte?
Roth: Das ist etwas kompliziert, denn es hat nicht nur mit der „richtigen“ Epoche zu tun, sondern auch mit der Region. In Frankreich 1850 war es ganz anders als in Deutschland. Und danach ist die Frage: Was interessierte die Komponisten: die „alten“ Instrumente, die sie schon kannten? Oder die Neuentwicklungen? Nehmen wir also für die „Symphonie fantastique“ „moderne“ Instrumente von 1830 oder „alte“ von 1800? Inzwischen haben wir eine gute Expertise für jedes Repertoire, das wir regelmäßig spielen. Für Französisches aus dem 19. Jahrhundert haben wir die besten Instrumente der Welt.
Haben Sie dafür ein Riesenlager?
Roth: Nein, das hat mit den Musikern selbst zu tun, das Orchester hat ebenfalls viel. Und ja, wir haben auch einen großen Keller mit vielen Instrumenten, acht Flügel, Pauken und so weiter. Unser Tuba-Spieler hat fünf oder sechs Ophikleiden (ein Blechblasinstrument, die Red.) zu Hause. Wenn wir musizieren, haben wir so viele Fragen. Und sehr viele Antworten kommen direkt aus den Instrumenten. Wir müssen uns immer wieder fragen: Wie wollten die Komponisten diese Musik hören?
Mal keine musiktheoretische, sondern eine praktische Frage: Sie sind Erster Gastdirigent bei Sir Simon Rattles neuem Orchester, dem London Symphony. Mussten Sie für die Stelle vordirigieren, oder ging das ohne?
Roth: Meine Geschichte mit dem LSO ist schon sehr alt. Ich hatte 2000 einen Wettbewerb gewonnen und war dort Assistent. Danach hatte ich sie regelmäßig dirigiert, und sie haben mir dieses Angebot gemacht. Es ist für mich eine Ehre.
Aber keine Audition?
Roth: Nein, nein … (lacht). Seit dem Wettbewerb damals mache ich so etwas nicht mehr.
Stellen wir uns mal vor, Sie kommen als Gastdirigent irgendwohin. Sie kommen zur ersten Probe, schon das fühlt sich komisch an, dann beginnen Sie – und merken: Wir werden keine Freunde. Chemie kaputt. Was dann?
Roth: Zu Beginn meiner Karriere konnte so etwas schon mal passieren. Aber inzwischen arbeite ich fast nur noch mit Orchestern, von denen ich weiß, dass es funktioniert. Aber am Anfang … das war katastrophal. Einmal hatte ich nicht nur ein paar Konzerte, sondern eine ganze Tournee, mit einem Orchester, dessen Name ich nicht nenne …
Und Sie haben sich gehasst …
Roth: Sieben oder acht Konzerte, und ab der ersten Probe: Hass vom Orchester. Alle Dirigenten können von so etwas erzählen. Auch das ist Teil unseres Lebens.
Was macht man, wenn 100 Menschen einen hassen?
Roth: Man muss einen Weg finden. Mitunter merken Dirigenten durch so etwas auch: Ich will nicht dirigieren, es ist zu schwierig. Davor war ich ja Flötist gewesen, und ich dachte damals: Okay, ich kenne diese Orchestermusikerwelt und bin ein Teil davon. Aber als Dirigent …
Sie waren auf der anderen Seite. Sie waren der Feind ...
Roth: Besonders in Frankreich, wo man ein Problem mit Hierarchien hat.
Fehlt Ihnen das Flötespielen im Orchester? Gibt es Phantomschmerzen?
Roth: Nein. Diesen Traum könnte ich haben, wenn ich nicht komplett zufrieden wäre. Aber ich bin so glücklich. Repertoire aussuchen, es mit den besten Orchestern spielen … was für ein Glück. Meine Träume sind andere, und: Habe ich genügend Zeit dafür? Ich hoffe, ich kann noch alles von Helmut Lachenmann dirigieren, solange er bei uns auf dieser Erde ist. Dank Köln und Les Siècles habe ich mehr und mehr mit Wagner zu tun. Das braucht Zeit! Schönberg, neue Komponisten … Gestern war Haydn, und wenn ich daran denke, dass ich gerade mal 20 oder 30 seiner 104 Sinfonien dirigiert habe …
Der Maestro alter Schule, der sich nur für Konzerte von seinem Olymp unter Menschen begibt, hat ausgedient?
Roth: Ja. Wir leben in einer total anderen Zeit, man braucht Antworten. Das ist überall so. Man braucht aber auch eine Autorität, die Entscheidungen trifft. Das bleibt, und ich bin nicht schüchtern. Wenn ich mit einem Orchester arbeite, erwarten die Musiker, dass ich ein sehr starkes Konzept habe. Und Führung. Aber diese Leitung geht in verschiedene Richtungen. Und ein Schlüsselaspekt meines Berufs ist es, zu provozieren. Heute, wo Musik, Kunst und Kultur mehr und mehr in einer gefährlichen Situation sind, erwartet man von uns ein anderes Verhalten. Wir leben in einer Zeit, in der man vielleicht kreativer sein muss.
Nach dem Ende des Konzerts gestern haben Sie in einer Rede kurz über Europa, London, den Brexit gesprochen. All das macht die Situation für Kultur und Menschen, die sich damit beschäftigen, nicht einfacher, oder?
Roth: Die Schwierigkeiten, sie werden jetzt kommen. Wie soll beispielsweise ein Musiker zukünftig in London arbeiten? Tourneen werden sehr kompliziert. Das ist ein Effekt dieser Entscheidung. Und die ist purer Populismus. Und was ist die erste Regel dabei? Man braucht keine Intelligenz, Intelligenz ist … etwas seltsam. Und wir sind mit Kultur in der ersten Reihe. Wenn es keinen fließenden Austausch zwischen den Ländern mehr gibt, ist das das erste Zeichen einer schlechten, unintelligenten Gesellschaft
Was würden Sie jemandem entgegnen, der sagt: Musiker sind nur dafür da, mir einen schönen Abend zu machen. Ich will nur unterhalten werden.
Roth: Das ist nicht Musik. Das ist Entertainment. Das ist, als wenn ich in meinem Wohnzimmer nur eine schöne Farbe sehen will. Das ist Dekoration! Musik ist keine Dekoration. Musik ist etwas Provozierendes, sie macht unglaubliche Freude, unglaubliche Melancholie. Alles! Aber Musik provoziert. Das ist ein Erlebnis. Musik, die nicht provoziert, ist langweilig.
Weitere Roth-Konzerte: 16.1.: Les Siècles, Musik von Lully, Rameau, Delibes, Massenet und Strawinsky. 24.2.: Gürzenich-Orchester, Werke von Beethoven, Lachenmann, B. A. Zimmermann u. a. Mit Pierre-Laurent Aimard (Klavier). Jeweils Elbphilharmonie, Großer Saal. Evtl. Restkarten.