Hamburg. Prof. Claas-Hinrich Lammers von der Asklepios Klinik Nord-Ochsenzoll erklärt, wie aus einem Tief eine Depression wird.

Es wird früh dunkel, es ist kalt – und die Stimmung ist so grau wie das Novemberwetter. Mindestens jeder Zehnte, so aktuelle Studien, fühlt das, was gemeinhin als „Winter-Blues“ bezeichnet wird. „Ich kenne dieses Gefühl, dass ab Ende Oktober so ein bisschen der Schwung weg ist, auch von mir selbst“, gibt Professor Dr. Claas-Hinrich Lammers in einer neuen Folge der „Digitalen Sprechstunde“, dem Podcast von Hamburger Abendblatt und Asklepios, zu. „Da sollte man sich auch gar nicht grämen, denn das ist ganz normal: Uns fehlt schlichtweg das Licht“, so der Ärztliche Direktor der Psychiatrie an der Asklepios Klinik Nord/Ochsenzoll.

Ein halbes Stündchen am Tag unter der „Lichtdusche“

Dass man sich über einen kurzen Zeitraum etwas müde und lustlos fühle, sei noch kein Grund zur Sorge. „Was allerdings nicht heißen soll, dass man dieser Antriebslosigkeit vollständig nachgeben sollte.“ Der Experte empfiehlt, den gewohnten Tagesablauf beizubehalten. „Also jetzt nicht plötzlich sonntags bis 12 Uhr schlafen und jeden Abend bei zwei, drei Gläsern Rotwein auf der Couch versacken – dann wird das zur Gewohnheit und es droht eine Spirale, aus der man nicht mehr so einfach rauskommt“, sagt der habilitierte Mediziner. Bewegung an der Luft tue auch im Winter gut. „Wir glauben oft, dass nur Licht das ist, wenn die Sonne scheint. Aber damit unser Gehirn gut arbeiten kann, reichen die Strahlen, die durch die dichte Wolkendecke kommen, völlig aus.“

Wer mehr tun wolle, könne in eine „Lichtdusche“ investieren, die ab etwa 100 Euro erhältlich sei. „In Skandinavien sind diese Geräte schon sehr verbreitet. Man stellt diese Lichtdusche, die 10.000 Lux eines speziellen Lichts direkt auf die Augen fallen lässt, einfach morgens für ein halbes Stündchen neben den Computer.“

Vier Millionen Menschen in Deutschland leiden an einer Depression

Doch wann wird aus einem temporären Tief eine veritable Depression? „Dafür gibt es drei Kriterien“, so der Psychiater. „Erstens: schwerste Antriebslosigkeit. Das heißt, der Betroffene kommt gar nicht mehr raus aus dem Bett, kann seinen Alltag nicht mehr meistern“, so der Experte. „Dazu kommen Interessenverlust und eine traurige, geradezu hoffnungslose Stimmung.“ Viele Patienten hätten keinen Appetit mehr, manche dächten, und das dürfe man nicht verschweigen, über Suizid nach.

„Jeder von uns hat mal einen schlechten Tag, aber wenn man sich zwei Wochen lang durchgehend wie versteinert fühlt, dann sprechen wir Mediziner von einer klinischen Depression und es ist dringend angeraten, sich Hilfe zu holen“, so der Ärztliche Direktor. Wichtig sei, Depression als echte Krankheit anzuerkennen und nicht als „Charakterschwäche“ abzutun. „Dieses Stigma existiert immer noch, obwohl Depression längst eine Volkskrankheit ist.“ Vier Millionen Bundesbürger sind erkrankt, jeder Fünfte ist irgendwann im Laufe seines Lebens einmal betroffen. „Es kann jeden treffen – die Reichen und Schönen, die Armen, die Großen und Kleinen.“

Vorwürfe helfen nicht – Betroffene freundlich ansprechen

Wer in seiner Familie oder seinem Freundeskreis einen Fall bemerke, solle sanft auf den vermeintlich Betroffenen einwirken. „Bitte keine Vorwürfe machen oder Sprüche bringen wie: Reiß dich mal zusammen! Viel hilfreicher ist es, einfühlsam zu fragen, ob derjenige selbst spüre, dass er sich verändert habe, zum Beispiel nicht mehr rausgehe und viel weine.“ Ursache für eine Depression könne sowohl ein singuläres Ereignis sein – man denke an die so genannte „Wochenbett-Depression“ – oder ein schleichender Prozess. „Manchmal wirken eben auch Veranlagung, Genetik und äußerlicher Stress zusammen, so der Familienvater, der gern drei bis vier Bücher gleichzeitig liest.

Und wo gibt es Hilfe? „Jede Psychiatrische Klinik verfügt über eine Ambulanz, in der Sie sich jederzeit vorstellen können. Und vergessen Sie bitte alle Mythen, die Sie je über Psychiatrie gehört haben. Man wird Sie dann nämlich nicht sofort da behalten, sondern untersuchen und beraten.“ Bei einer leichten Depression solle man erst einmal abwarten. „Oft geht das von selbst wieder weg.“

Bei schwerer Depression Psychotherapie und Medikamente

Bei einer mittelschweren Depression sei eine Gesprächstherapie das Mittel der Wahl. „Natürlich wirken Antidepressiva. Aber es ist aus meiner Sicht immer besser zu lernen, sich selbst zu helfen als nur passiv Pillen einzuwerfen.“ Bei einer schwersten Depression setze man auf die Kombination aus Psychotherapie und Medikamenten. „Sie sind in diesem Fall hilfreich und oft tatsächlich lebensrettend.“ Normalerweise gehe es einem Patienten schon nach zwei bis drei Monaten Gesprächstherapie deutlich besser. „Gibt es nach einem Jahr keinen Fortschritt, dann muss man vielleicht darüber nachdenken, den Therapeuten zu wechseln.“

Eine Studie der Krankenkassen, wonach Hamburg die „depressivste Stadt Deutschlands“ ist, will der Mediziner nicht überbewerten. „In einer Großstadt ist die Versorgung besser als auf dem Land und es gibt eine größere Bereitschaft, dieses Angebot auch anzunehmen“, sagt der leidenschaftliche Klavierspieler, der gern Weihnachtslieder ein bisschen verjazzt. „Die klingeln dann gleich viel fröhlicher und nicht so depressiv.“

„Die digitale Sprechstunde“ ist die Gesundheits-Gesprächsreihe von Hamburger Abendblatt und Asklepios. Jede Woche erklärt ein Experte im Gespräch mit Vanessa Seifert ein bestimmtes Krankheitsbild. Die aktuelle Folge und alle bisher veröffentlichten Episoden hören Sie auf www.abendblatt.de/digitale-sprechstunde/

In der nächsten Folge klärt Dr. Markus Faust, Chefarzt an der Asklepios Klinik St. Georg, darüber auf, was Palliativmedizin alles leistet. Schreiben Sie uns an sprechstunde@abendblatt.de